Sie scheute das Rampenlicht und arbeitete lieber zurückgezogen. Jetzt wird das Werk von Birgit Jürgenssen endlich entdeckt – mit einer großartigen Retrospektive in der Kunsthalle Tübingen.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Tübingen - Männer müssen sich nicht fürchten – auch wenn Birgit Jürgenssen dem männlichen Geschlecht mitunter energisch zu Leibe rückt. Die drei Frauen, die in koketten Posen den Boden wischen, benutzen keine Putzlappen, sondern, autsch, winzige Männlein. Aber Birgit Jürgenssen war keine Kämpferin. Andere Künstlerinnen gingen in den siebziger Jahren mit Megafon auf die Straße, Valie Export führte zum Beispiel ihren damaligen Partner Peter Weibel provokant am Hundehalsband durch die Stadt. Birgit Jürgenssen verkroch sich dagegen in ihrem Atelier und arbeitete sich dort auf ihre Weise an Rollenbildern ab. Als sie 2003 mit Anfang fünfzig starb, hinterließ sie ein gigantisches Werk von 4000 Arbeiten. Damit bekannt zu werden hatte sie aber nicht geschafft.

 

Das holt die Kunsthalle Tübingen nun nach und stellt mit der Ausstellung „Ich bin“ eine Künstlerin vor, die eigen und hochgebildet war, witzig und ernsthaft zugleich, rebellisch und dabei doch besonnen. Nicole Fritz, die Leiterin der Kunsthalle Tübingen, ist in den vergangenen Jahren immer wieder auf Arbeiten von Jürgenssen gestoßen und war sofort begeistert von diesem ungewöhnlichen Werk, das erst seit wenigen Jahren den Kunstbetrieb erobert. Nicole Fritz hat beherzt zugegriffen und präsentiert nun die erste Retrospektive in Deutschland, die sie gemeinsam mit Natascha Burger kuratiert hat. Burger betreut den Nachlass und weiß, dass sich Jürgenssen bei ihrer Karriere selbst im Weg stand, weil das laute Trommeln und eitle Vorpreschen ihre Sache nicht waren.

Jürgenssen arbeitet sich am Bild der Frau ab

Stattdessen zieht sich Jürgenssen zurück und fotografiert sich vor dem Spiegel. Sie liebt das Rollenspiel und schlüpft in andere Identitäten. Hier spielt sie mit Werken der Kunstgeschichte, dort mit gesellschaftlichen Stereotypen. Vor allem aber ringt sie mit der Rolle der Hausfrau und Mutter, an der sie sich mit bitterböser Ironie abarbeitet. Sie zeichnet eine Hausfrau mit Schürze und Kopftuch – selbst das Gesicht ist hier kariert, oder besser: klein kariert.

In der Kunsthalle steht nun auch die massive Küchenschürze aus Blech. Jürgensen hängte sich das sperrige Monstrum 1975 um und fotografierte sich damit so, als sei die Hausfrau mit einem Küchenherd samt Kochplatten und offener Ofentür verschmolzen.

Birgit Jürgenssen wurde 1949 in eine eher traditionelle Wiener Arztfamilie geboren – und will mit ihrer Kunst die Vorurteile und Rollenbilder aufzeigen, mit denen sie groß geworden ist. „Ich möchte hier raus“, steht auf einer Glasscheibe, an die Jürgenssen mit adretter Rüschenbluse und altmodischem Medaillon das Gesicht presst. Zu einer Ikone feministischer Kunst gehört inzwischen die Fotografie „Nest“ (1979), bei der im Schoß einer Frau Eier im Nest liegen. Auf einem großen Porträt von 1977/78 hat sie sich wiederum mit üppigem Pelz gezeichnet, doch das, was sie als Hut trägt, ist ein Ratten- oder Mäusekopf. Die Vorstellung der Frau als triebhaftes Tier taucht immer wieder bei ihr auf.

Die Kunsthalle lenkt den Blick auf die höchst eigenwilligen Zeichnungen

Neben diesen feministischen Arbeiten rückt die Kunsthalle noch eine andere Seite in den Fokus: Denn Jürgenssen hat extrem eigenständige und eigenwillige Zeichnungen angefertigt. So hat sie etwa eine Frau gezeichnet, die mit sich selbst Tennis spielt – an der Stelle des Kopfes steckt ein zweiter Schläger. „Das Match, das trag ich mit mir selber aus“, steht auf dem Blatt von 1973 – die Konflikte, die die Gesellschaft sät, muss man in letzter Konsequenz mit sich allein austragen. Die Sprache spielt eine große Rolle in dem Werk, Jürgenssen hat auch immer wieder Redewendungen illustriert. Bei „Wie seinen Augapfel hüten“ zeichnet sie ein Auge mit Hut. Bei „Künftige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus“ sieht man eine junge Frau – ihr Schatten hat bereits einen dicken Babybauch. Deshalb ist es schade, dass die Beschriftungen in der Kunsthalle weit abseits angebracht sind, dabei sind die Titel bei Jürgenssen oft elementarer Bestandteil der Arbeiten.

Birgit Jürgenssen hat unermüdlich experimentiert, hat Polaroid-Selfies gemacht, mit Deckweiß auf Karton gezeichnet, irrwitzige Schuhe aus verschiedensten Materialien gefertigt und für ihre Fotografien auch immer wieder Dinge auf ihren Körper projiziert. Schon als junge Frau schafft sie großartige Illustrationen für Kinderbücher, die allerdings alles andere als kindgerecht sind. Da zerfällt „Das Trampel“ (1969), ein viel zu alt wirkender Junge, in seine Einzelteile, oder fehlen den Mädchen, die sich aneinanderschmiegen, die Gesichter. Für Jürgenssen war es „unmöglich zu zeichnen, ohne ein Stück Literatur im Kopf zu haben“, hat sie mal gesagt, aber sie besaß auch eine überschäumende, mitunter eigenwillige Fantasie, deren Winkelzüge sich nicht immer komplett nachvollziehen lassen, so dass in den Arbeiten oft ein widerspenstiger Rest bleibt, ein poetisches Rätsel.

Mann und Frau als eine Art Rasenmäher vereint

Auf einem großformatigen, starken Aquarell sieht man Mann und Frau nebeneinander in Gebetshaltung knien. Doch ein Griff wie von einem Rasenmäher verbindet sie miteinander, als seien sie nicht mehr als Werkzeuge. Einmal zeichnet sie zwar einen eleganten Mann, dessen Gesicht wie eine Maske verrutscht ist und eine Fratze freilegt. Aber letztlich kämpft Jürgenssen nicht gegen Männer, sondern verhandelt die Rollen, in die Mann wie Frau gepresst werden. Eine der melancholischsten Arbeiten ist eine kleine Schultafel, auf die sie mit Kreide „Ich bin“ gekritzelt hat – und damit die Frage aufwirft, was das Ich ausmacht jenseits von Manipulation und Sozialisation. Auf einer anderen Zeichnung bügelt eine Frau ihren Mann auf dem Bügelbrett platt, im Wäschekorb stapeln sich schon andere Gestalten, die sie akkurat wie Hemden geplättelt und gefaltet hat. Der Mensch – normiert und in Form gebracht.