Die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und das Junge Ensemble Stuttgart erzählen vom Triumph der Nazis. Das Stück „Bis zum letzten Tanz“ führt im Wilhelma-Theater zurück in Krisenzeiten. Autor Christian Schönfelder und Regisseur Kjell Moberg deuten dabei die Gegenwart – und denken zum 75-Jahr-Jubiläum über die Geschichte der 1942 gegründeten Schauspielschule nach.

Stuttgart - Wie oft hat man es im Angesicht der Krise schon erlebt: Plötzlich zeigen Nachrichtensendungen erschütternde Bilder, Zeitungen drucken dicke Sonderausgaben, Experten rätseln in gesitteten Talkrunden über Ursachen und Konsequenzen. Man schaltet den Fernseher an – und mit einem Mal brennt die Welt. Scheinbar. Doch was ist eigentlich mit dem Moment vor der Katastrophe, den Sekunden vor den Ereignissen, die später im Geschichtsbuch landen werden? Und was ist mit den Menschen, die vielleicht noch Zeit gehabt hätten, den Sprung von der Klippe zu vermeiden?

 

„Bis zum letzten Tanz“, die Stückentwicklung des dritten Jahrgangs der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, erzählt in Kooperation mit dem Jungen Ensemble Stuttgart ab dem 6. Oktober im Wilhelma-Theater den Lebensweg von acht Freunden, die aus Versehen am Wendepunkt der Geschichte stehen. Silvester 1932: Man feiert, klirrt Sektgläser aneinander, liegt sich halb trunken in den Armen und träumt von einem neuen Morgen, an dem alles heller, neuer, besser wird. Silvesterphantasmen eben. Doch dass im nächsten Jahr ein totalitäres Regime ihr Leben aus den Bahnen werfen wird, steht an diesem Abend nicht einmal in den Sternen.

Erkundung der Nazijahre

Das Stück folgt dem Weg seiner Figuren – eine von ihnen ist der jüdischen Balletttänzerin Suse Rosen nachempfunden, der Rest weiteren Personen der Stuttgarter Stadtgeschichte – durch die Frühphase des NS-Regimes. Die Schauspielschule wurde vor 75 Jahren gegründet, 1942 also. Nicht nur die heutige Leiterin Franziska Kötz fragt sich, wie man damals zur herrschenden Ideologie stand, wie Lehrer und Schüler dachten und handelten. So dient das Stück „Bis zum letzten Tanz“ passend zum 75-Jahr-Jubiläum als künstlerischer Erkundungsversuch einer undokumentierten Schulzeit.

Es zeichnet im Kleinen, Privaten nach, wie die Welt durch die Wohnzimmerfenster bricht und dort alles durcheinander schleudert. Freundschaften zerbrechen, Lebenskonzepte werden umgeworfen, Werte werden auf den Prüfstand gestellt.

„Das hat mich bei der Inszenierung sehr interessiert“, erklärt der Regisseur Kjell Moberg und hebt nachdrücklich die Hand. „Wie die Ereignisse der Politik den kleinsten Teil der Gesellschaft beeinflussen: Freundschaften und Familie.“ Gemeinsam mit Christian Schönfelder, dem Autor des Stücks, sitzt der 47-jährige Norweger an einem Tisch hinter der Bühne des Wilhelma-Theaters. An den Wänden hängen schwere Ölgemälde, hinter den Fenstern liegt ein weitläufiger Steinbalkon. Wenn Moberg lacht – und das tut er oft –, prallt das Geräusch an den hohen, stuckverzierten Decken ab. Inmitten des einschüchternden Schicks wirken die beiden Künstler fast schon erfrischend deplatziert.

Rollt die Lawine schon?

Auch auf der Bühne sollte man besser zweimal hinschauen: Denn die historischen Tatsachen werden dort durch die Augen nahbarer Personen neu erzählt – und wer sich traut, sieht darin nicht nur die Vergangenheit, sondern auch ein Stück des Jetzt. „Historische Stücke können viel über aktuelle Ereignisse erzählen. Etwas in eine andere Zeit zu versetzen, macht es für die Leute zugänglicher“, erklärt Moberg.

Man will aufrütteln, sichtbar machen, das Publikum mit der Frage konfrontieren, an welchem Punkt der Geschichte man selbst gerade steht. Rollt die Lawine schon, oder lässt sie sich noch aufhalten? Denn zwischen der Machtergreifung der NSDAP und den rechtspopulistischen Tendenzen in der aktuellen Politik sieht Moberg Parallelen. „Solche populistischen Hetzreden wie heute hätte es vor ein paar Jahren noch nicht öffentlich gegeben. Und mit welcher Geschwindigkeit Donald Trump in den USA versucht hat, seine Wahlversprechen durchzusetzen – das habe ich seit 1933 nicht mehr gesehen.“.

Hemmungen schwinden

Auch in Deutschland wird der radikale Wortschatz rechter Gruppierungen momentan wieder salonfähig und stößt dabei im Alltagsgewand quasi nebenbei Hemmungen und Restriktionen aus dem Fenster. „Vor ein paar Jahren wäre ein Spruch wie ‚Unser Land zuerst‘ nie möglich gewesen. Heute benutzt ihn quasi jeder“, meint auch Christian Schönfelder und schaut aus den bodentiefen Fenstern nach draußen.

Populismus, Nationalismus und autokratische Tendenzen in Teilen Europas und den USA – die Welt steht vor einem neuen alten Problemfeld. Dass „Bis zum letzten Tanz“ trotzdem eine Geschichte aus der NS-Zeit erzählt, statt sich auf aktuelle Entwicklungen zu konzentrieren, hat seinen Grund: Der Blick zurück gibt dem Künstler die Freiheit der Fiktion und eine Welt der Mythen und Wahrscheinlichkeiten, vor der die Zuschauer nicht beschämt zurückschrecken. „Wenn ich jetzt zum Beispiel ein Stück über Flüchtlinge inszeniere, wollen die Menschen oft nicht damit konfrontiert werden, weil die das Gefühl nicht aushalten. Historische Geschichten sind ein Stück weiter von ihnen entfernt“, so Moberg. „Die Leute können sich dann aussuchen, wie sehr sie sich damit identifizieren wollen“, fügt Schönfelder hinzu.

Premiere:
6. Oktober, 20 Uhr, Wilhelma-Theater