Hendrik Lüdke aus Marbach am Neckar hat eine Nachricht erhalten, die sein Leben auf den Kopf stellt. Er zieht daraus Konsequenzen – und verabschiedet sich jetzt schweren Herzens von einer großen Leidenschaft.

Vier Stunden Sport pro Tag waren für Hendrik Lüdke Standard. Der 71-Jährige fühlte sich fit wie ein Turnschuh. „In meiner Überheblichkeit habe ich gedacht, ich bin unverwundbar“, sagt er. Doch das war ein Trugschluss. Bei einer Prostatauntersuchung am 26. August im Ludwigsburger Krankenhaus war Lüdkes behandelnder Arzt stutzig geworden und ließ Gewebeproben entnehmen. Das bittere Ergebnis der Biopsie erhielt der Marbacher Stadtrat knapp eine Woche später: positiv aggressiver Krebs. Sein Leben ist seit diesem Tag nicht mehr dasselbe.

 

Beim Abschiedsschreiben „Rotz und Wasser geheult“

„Das hat mein Denken verändert. Ich muss mehr an mich denken, mir mehr Zeit für mich und meine Familie nehmen“, erklärt der Vater von vier Kindern. Für Lüdke bedeutet das vor allem auch, dass er seine Tätigkeit im Gemeinderat an den Nagel hängen wird. Für manche Kollegen wäre das vielleicht weniger tragisch, für Lüdke ist es ein kleines Drama. Der kämpferische Linke gehörte der Runde drei Dekaden an, erst als Vertreter der Grünen, dann die vergangenen zehn Jahre, nach einem Bruch mit seiner früheren politischen Heimat, der Gruppe Puls. Der pensionierte Diplom-Verwaltungswirt hat die Aufgabe mit Leib und Seele ausgefüllt, eckte mit seiner bisweilen detailversessenen Art immer wieder an, ließ sich aber nie verbiegen. Entsprechend aufgewühlt setzte er sein Abschiedsschreiben auf. „Ich habe dabei Rotz und Wasser geheult. Das geht mir auch heute noch nahe. Aber ich musste ja etwas verändern“, erklärt Lüdke.

Zumal es ein Kraftakt für ihn geworden wäre, an den manchmal stundenlangen Diskussionen teilzunehmen. Denn zu langes Sitzen ist Gift für Lüdke. Am 19. Dezember wird er offiziell aus dem Marbacher Gemeinderat verabschiedet.

Es gibt allerdings rund um die Erkrankung auch gute Nachrichten. Die Operation am 11. Oktober verlief erfolgreich. Und bereits vor der Radikalentfernung der Prostata war auch untersucht worden, ob sich Metastasen gebildet hatten – mit negativem Befund. Die Situation ist aktuell also nicht mehr lebensbedrohlich, wenn auch weiter ernst. Denn der Krebs könnte von der Prostata aus in benachbarte Gewebezellen gestreut haben. Sollte das der Fall sein, bräuchte Lüdke eine Strahlentherapie. Gewissheit hat er erst im Dezember, wenn der so genannte PSA-Wert im Blut gemessen ist. Liege dieser bei null, sei er geheilt, erklärt Lüdke.

Im Moment gehe es ihm halbwegs ordentlich, aber nicht wirklich gut. Körperliche Anstrengung sei tabu. Er dürfe höchstens spazieren gehen, jedoch auch das nur in Maßen. Unlängst hat es der gebürtige Leipziger, dessen Eltern 1955 mit der Familie in den Westen flüchteten, übertrieben und ist 17 Kilometer marschiert. „Das war zu viel“, sagt er. Doch auch in anderer Hinsicht muss und will er einen Gang runterschalten: Was die Unterstützung für Menschen aus der Stadt anbelangt, die ihn mit einem Anliegen aufsuchten. „Ich habe nie gesagt, das geht mich nichts an, sondern mich darum gekümmert. Aber das war natürlich sehr aufwändig. Ich muss jetzt etwas egoistischer sein“, sagt er.

Wie geht es mit der Liste Puls weiter?

Lüdke betont, dass er sich auch in die Angelegenheiten der Gemeinderatsliste Puls nicht einmischen werde, dem verbleibenden Mitstreiter Jochen Berger und Lüdkes potenziellem Nachrücker Metin Üven nur bei Bedarf und auf Nachfrage beratend zur Seite stehen werde. Er glaubt auch, dass die Initiative ohne ihn bestehen kann, Berger und Üven das Zeug haben, etwas zu bewegen, auch wenn die Gruppierung „sein Baby“ sei, er Begründer und Sprecher war. Einige Beobachter würden wahrscheinlich sogar weitergehen und sagen: Hendrik Lüdke ist Puls und das Ganze war mehr oder weniger eine One-Man-Show, das ohne ihn von der Bildfläche verschwinden wird. „Wenn es tatsächlich so sein sollte, dann stirbt Puls zurecht“, konstatiert Lüdke.

Vielleicht rührt diese Nüchternheit bei bestimmten Sachfragen aus seiner Vita. Der Marbacher hat viel gesehen und durchgemacht. Er stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Die Haferflocken zum Frühstück wurden mit Wasser zubereitet, der kleine Hendrik teilte sich mit seinen drei Geschwistern ein Zimmer in einer 63-Quadratmeter-Wohnung in einem Hochhaus im Hörnle. Lüdke schaffte es trotz allem aufs Gymnasium, machte Abitur, wurde eingezogen, wollte aber nicht auf die Fahne schwören. Lüdke verweigerte schließlich den Wehrdienst, machte Zivildienst.

Anschließend tingelte er knapp fünf Jahre durch die Welt, nur unterbrochen von Heimataufenthalten, bei denen er sich in verschiedenen Jobs Geld zusammensparte, um wieder auf Reisen gehen zu können. Letztendlich wurde er doch sesshaft, studierte, war anschließend erst bei der Stadt Bietigheim-Bissingen und von 1987 bis zu seiner Pensionierung Ende 2018 beim Regierungspräsidium Stuttgart tätig – und versuchte sich immer für die weniger Betuchten und Schwächeren in der Gesellschaft einzusetzen, vor allem auch als Stadtrat. Auch deshalb fällt ihm der Abschied so schwer. Doch die Krankheit ließ ihm keine Wahl.

Dreimal bei Bürgermeisterwahlen dabei

Entfremdet
Hendrik Lüdke wurde 1952 in Leipzig geboren, lebt seit 1959 in Marbach. Dort zog er 1994 erstmals für die Grünen in den Gemeinderat ein. Ende 2013 verließ er die Fraktion und den Gemeinderat, weil er sich von den Zielen der Partei auf Bundesebene entfremdet hatte, gründete die Gruppe Puls, mit der er 2014 ins Gremium zurückkehrte. Lüdke trat auch dreimal bei den Bürgermeisterwahlen in Marbach an, erreichte 1989 sogar mehr als 30 Prozent.

Früherkennung
Bei Prostatakrebs, an dem Lüdke erkrankt ist und der ihn zum Ausscheiden aus dem Gemeinderat bewegt, handelt es sich laut Deutscher Krebsgesellschaft um einen bösartigen Tumor der Vorsteherdrüse des Mannes. Es ist unter Männern die häufigste Krebsform. Zur Früherkennung raten Krankenkassen, ab 45 Jahren einmal im Jahr die Prostata untersuchen zu lassen.