So kann Oper auch aussehen: Diese musikalisch beglückende und bildstarke Inszenierung von Björks Popalbum „Vespertine“ am Mannheimer Nationaltheater liefert den Fingerzeig, wie sich zwei Genres gegenseitig befruchten können.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Mannheim - Elfter September 2001. Im Stuttgarter Hegelsaal ist für diesen Abend ein Konzert der isländischen Popmusikerin Björk Gudmundsdottir angesetzt, die ihr wenige Wochen zuvor erschienenes Album „Vespertine“ vorstellen möchte. Während in New York, der Wahlheimat der Künstlerin, die Zwillingstürme einstürzen, ringt sie hinter den Kulissen der Liederhalle mit sich. Jeder hätte Verständnis für eine Absage gehabt, dabei hat sie eine Entourage mitgebracht, die man so noch nicht gesehen hat. Angereist sind ein fünfzigköpfiges Streichorchester nebst Englischhörnern und Pauke, die Weltklasseharfenistin Zeena Parkins, das kalifornische Elektrosoundtüftlerduo Matmos und ein 15-köpfiger Inuitchor.

 

Am späten Nachmittag fällt Björk die ebenfalls Verständnis gebietende Entscheidung, aufzutreten. Im (trotz der für damalige Verhältnisse deftigen Eintrittspreise von fast zweihundert Mark) seit langem ausverkauften Hegelsaal führt die isländische Sängerfee vor, wie man ihr Werk auch live in einen völlig unerhörten Klangkosmos tauchen kann, wie sich Popmusik mit einer klassischen Instrumentierung paaren, wie sich ein Album in eine Inszenierung wandeln lässt. Ein tragisches Datum, aber ein in jeder Hinsicht unvergesslicher Abend.

Geschichte wiederholt sich

Bald 17 Jahre später, auf der Bühne des Mannheimer Opernhauses, wiederholt sich Geschichte. Im Graben agiert unter der Leitung des Australiers Matthew Toogood das Orchester des Nationaltheaters, verstärkt durch zwei in den Parkettlogen platzierte Harfenistinnen. Gespielt wird das Album „Vespertine“, das vom Künstlertrio Himmelfahrt Scores in eine Partitur transkribiert worden ist. Das Klangerlebnis ist beeindruckend. In der Notation nahezu identisch wird der auf dem Album vielfältig unter anderem mit Elektronik und Streichern im Studio eingespielte Originalklang in der Bühnenfassung umgesetzt, und doch offenbart sich eine ganz neue akustische Welt. Nur selten führt Toogood das Orchester in wuchtiges Forte, zart und feinfühlig gerät der zirpende, sirrende und flirrende Klang zumeist, verblüffend ist dazu der Stereoeffekt der beiden Harfen. Das alles ist zwar keine wahre Novität, weil Björk sich ja eben selbst auch schon orchestral in Szene gesetzt hat. Aber es ist, auch weil zwischen verstärktem Livesound und rein akustischem Liveklang nun auch noch mal ein kleiner feiner Unterschied liegt, famos gelungen .

Auf der Bühne singt – sehr dezent zum Gesamten beitragend – ein Kinderchor. Dazu kommen, ebenfalls nicht mit sonderlich tragenden Rollen, zwei weitere Sänger – bezeichnet als der Leuchtende und der Wolkenjunge. Sowie die Figur der Wissenschaftlerin und ihrer Doppelgängerin, fulminant gesungen von den asiatischen Sopranistinnen Ji Yoon und Aki Hashimoto.

Die beiden klassisch ausgebildeten Opernsängerinnen kaufen Björks Stimme auf den ersten Eindruck natürlich auch im übertragenen Sinne den Schneid ab. Alles Kieksende, Scharfe und Schneidende an Björks Gesang überführen sie in makellose Linien, die Fülle ihrer Singstimmen überstrahlt erwartungsgemäß die Körperlichkeit des Björk’schen Organs. Umgekehrt musste für diese Inszenierung von vornherein mit diesen zwei unterschiedlich timbrierten Sopranistinnen disponiert werden, um das Spektrum, die Farben und den Oktavumfang der – immerhin auch klassisch ausgebildeten – erratischen Singstimme Björks überhaupt nachbilden zu können. Beide Lesarten des „Vespertine“-Gesangs bekommen so ihre ganz besonderen Reize, so offenbart sich hier eine ganz wunderbare friedliche Koexistenz der Kunstformen.

Wie man aus keiner Handlung eine Handlung macht

„Vespertine“ ist ein gewiss vielschichtiges Werk, jedoch kein Konzeptalbum. Ihm liegen weder eine Handlung noch ein dramaturgisch taugliches Libretto zugrunde, die sich für eine Bühnenadaption nutzen ließen. Das dänische Künstlerkollektiv Hotel Pro Forma, das in Mannheim die Inszenierung verantwortet, müht sich daher redlich, eine Handlung zu konstruieren. So kommen der Leuchtende und der Wolkenjunge ins Spiel, eher aus visuellen Gründen, denn das Album enthält keine männlichen Gesangsparts. So fügt sich der putzig kostümierte, vorne am Bühnenrand kauernde Kinderchor hinzu. Und so wird die Geschichte von der Forscherin und ihrer Doppelgängerin als Protagonistinnen entworfen, die unter Laborbedingungen die Entstehung des Lebens und des Liebens zu erforschen versuchen. Ästhetisch wird das – mit Bauten, Videoprojektionen und auch der Statisterie – zu einem wunderbaren Bühnenbild verwoben, das mit seiner naturmystischen poetischen Kraft in den Bann schlägt und zugleich viel Raum für eigene Assoziationen und Deutungsmöglichkeiten lässt.

Begeisterter Applaus für eine tolle Inszenierung

In der Summe ergibt sich eine tolle Inszenierung, die auch der für ihre multimedialen Faibles bekannten Björk gewiss gefallen hätte, die persönlich nicht bei der Premiere anwesend sein konnte, aber die Entstehung wohlwollend begleitet hat. Ein audiovisuelles Popkonzerterlebnis, wie es vergleichbar erst selten (die Rockopern „Tommy“ oder „The Wall“ ließen allenfalls grüßen) und im strengen Sinne noch nie zu sehen war. Die Mannheimer „Vespertine“ ist eine beglückende Symbiose aus zwei Welten, die maßstabgebend sein könnte: Für den bisweilen etwas angestaubten Hochkulturkosmos des Musiktheaters, der sich frei von Dünkel öffnen, erneuern und bereichern ließe.

Das übrigens leger gewandete und vergleichsweise junge Premierenpublikum hat den Abend zu recht begeistert gefeiert. Die beiden fantastischen Sängerinnen und das fantasiebeseeltes Bühnenbild. Und einen formidablen Crossoveransatz, der alle teils sehr berechtigten Bedenken, die man gegenüber derartigen Experimenten haben könnte, ernsthaft, ohne jegliche Anbiederung und mit zauberhaft leichter Hand davonwischt.