Die Künstlerbewegung des Blauen Reiters um Wassily Kandinsky und Franz Marc verwandelten München und Murnau in Hotspots der Moderne.

Basel - Am Beginn des Parcours ist in einer Filmprojektion an der Wand eine zeichnende Hand zu sehen, die auf einer leeren Europakarte ohne Ländergrenzen einen Punkt setzt - irgendwo im südlichen Deutschland, womöglich in Bayern. Emsig zieht sie sodann von anderen, teils weit entfernten Regionen Pfeilstriche zu diesem Punkt - der in einem zweiten Anlauf zum Ausgangspunkt für eine zackige Linie wird, die sich fast über den gesamten Kontinent zieht.

 

Die animierte Wandprojektion des Schweizer Designstudios iart im ersten Saal der Ausstellung „Kandinsky, Marc & Der Blaue Reiter“ in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel veranschaulicht zunächst die weit verstreute geografische Herkunft der Künstler, die um 1900 aus Russland, Paris oder dem Rheinland den Weg nach München gefunden hatten - und die sich zu einer losen Künstlergemeinschaft zusammenschlossen, deren Name sich von dem 1912 erschienenen Almanach „Der blaue Reiter“ herleitet. Die zweite Animation wiederum zeichnet den Weg nach, den die erste gemeinsame Ausstellung der Künstler nach der Münchner Premiere etwa um dieselbe Zeit kreuz und quer durch Europa nahm - bis hinauf nach Oslo, Helsinki und Trondheim. Ein wenig erinnert die Verlaufskurve der Tournee mit ihren elf Stationen an eine abstrakte Zeichnung – etwa von Wassily Kandinsky.

Kandinsky war neben Franz Marc der Hauptprotagonist und Motor der Kunstbewegung, durch deren Schaffen sich München in die Weltkarte der modernen Kunst einzeichnete. Die bayerische Hauptstadt - und beinahe noch mehr das 70 Kilometer südlich gelegene Murnau am Staffelsee, wo Kandinsky mit seiner Lebensgefährtin Gabriele Münter von 1909 an vor allem die Sommermonate verbrachte und das Paar befreundete Künstler als Gäste empfing -, München also avancierte durch den Blauen Reiter zu einem Zentrum und Hotspot der Moderne – durchaus vergleichbar mit Städten wie Dresden, Berlin, Paris.

Franz Marc und August Macke fielen an der Westfront

Die wunderbare, von Ulf Küster kuratierte Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel erzählt die Geschichte (und Vorgeschichte) des Almanachs „Der blaue Reiter“ und der nach ihm benannten Künstlergemeinschaft – von 1908 an, als Kandinsky und Münter in München eintrafen, bis zur Auflösung der Vereinigung im Jahr 1914, als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Künstler in alle Welt zerstreute. Als Ausländer aus Feindesland mussten Kandinsky und Alexeij von Jawlensky, der mit Marianne von Werefkin in München zusammenlebte, Deutschland verlassen, während Franz Marc und August Macke eingezogen wurden. Beide fielen an der Westfront.

Ausgehend von Werken aus der Sammlung der Fondation Beyeler illustriert die Ausstellung mit rund 70 Gemälden und weiteren Exponaten die bedeutsame Entwicklung, die die Künstler des „Blauen Reiters“ in der vergleichsweise kurzen Zeitspanne durchliefen: die seinerzeit revolutionäre Wendung von der Wirklichkeitsabbildung zur Abstraktion oder, wie Gabriele Münter es in einem Brief formulierte, den „Sprung“ „vom Naturabmalen“ hin zum „Fühlen eines neuen Inhalts“, geistigen „Extrakts“.

Besonders deutlich ist diese Entwicklung in den Werken Kandinskys und Marcs. Die beiden umtriebigen Impresarios des „Blauen Reiters“, die sich Anfang 1911 kennen gelernt hatten und für die Redaktion des Almanachs gemeinsam verantwortlich zeichneten, sind zahlenmäßig am stärksten mit Werken vertreten. Die Schau kann mit einer Reihe von Hauptwerken beider Künstler aufwarten - wie Marcs „Großen blauen Pferden“ aus dem Walker Art Center in Minneapolis oder Kandinskys „Landschaft mit Regen“ aus dem New Yorker Solomon Guggenheim Museum.

Ein Raum ist dem Almanach „Der blaue Reiter“ gewidmet

Flankiert werden ihre Werke durch Spitzengemälde anderer Künstler wie August Mackes „Große Promenade“ in Öl von 1914 und Gabriele Münters stimmungsvolle und farbintensive „Landschaft mit Hütte im Abendrot“, Marianne von Werefkins ausdrucksvolles Gemälde „Tragische Stimmung“ oder Jawlenskys „Landschaft“ mit orangefarbener Wolke. Im Zentrum der Ausstellung ist ein Raum speziell dem 1912 erschienenen Almanach „Der blaue Reiter“ gewidmet. Dort sind in einer multimedialen Installation unter anderem den Abbildungen von Kunstwerken in sieben aufgeschlagenen Ausgaben des Almanachs die Originale gegenübergestellt - Werke von Hans Baldung Grien, Henri Rousseau oder Robert Delaunay, aber etwa auch eine chinesische Gouache mit Fabeltieren, ein japanischer Farbholzschnitt oder eine Gesichtsmaske aus Gabun.

Seit Murnau begannen Kandinsky und Münter unter dem Eindruck der Hinterglasmalerei der bäuerlichen Welt im Alpenvorland, in leuchtenden, ungemischten Farben Bilder mit intensivfarbigen Flächenformen zu malen. Schon die bilddominierende, flächig-weiße Gebirgswolke in Kandinskys „Landschaft bei Murnau mit Lokomotive“, die in der Dampfwolke des Eisenrosses einen Nachhall findet, ist für seine Verhältnisse revolutionär. In Kandinskys „Impressionen“ und „Improvisationen“ tritt dann die gegenständliche und figürliche Welt mehr und mehr zurück; wie durch einen Schleier ist sie allenfalls noch erahnbar. Selbst in Werken der abstrakten Phase freilich kehrt klandestin hier und da noch das geliebte Reitermotiv wieder. In der „Improvisation 35“ oder der „Komposition VII“ - eine Leihgabe der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau - ist dann jede Erinnerung an die Realwelt getilgt. Die Dynamik der Bilder ist eine rein bildimmanente, kompositorische.

Auch Marc, der Tiermaler, war unterwegs zur Abstraktion – eine wenig beachtete Facette seines Schaffens. Eine Etappe auf dem Weg dahin bildet die „Geometrisierung“ des Bildraums mittels Symmetrie oder der Verwendung kubistischer und orphistischer Stilelemente. Die weichen, Kreisformen sich annähernden wollüstigen Formen der Tierleiber in „Stute mit Fohlen“ oder den „Großen blauen Pferden“ wirken wie mit dem Zirkel gemalt. Die spektral zerlegten „Stallungen“ mit Pferden – Marcs letztes Tierbild! - verschwinden dann nahezu in der strikt geometrischen Anlage des Gemäldes. Und muss man in einem anderen Werk das Titel gebende, in ungegenständliche farbige Formen eingebettete schlafende „Reh im Walde“ noch förmlich suchen, so hat die „Kleine Komposition“ von 1913 die Verbindung zur Realwelt bereits gekappt.

Bis 22. Januar 2017, geöffnet täglich 10 bis 18 Uhr, Mittwoch bis 20 Uhr