Wo Freundschaft und gute Wünsche blühen: Ein Buch aus dem Mannheimer Reiss-Engelhorn-Archiv zeigt, dass Poesie-Alben mehr sind als nur „Mädchenkram“.

Mannheim - Noch vor wenigen Jahrzehnten hatte praktisch jedes junge Mädchen ein Poesie-Album: die weißen Seiten in Leder oder Leinen gebunden, in Schönschrift ausgefüllt und geschmückt mit bunten Bildern. Es war, passend zu den Versen die drin standen, ein Schwelgen in Rosen, Nelken und Vergissmeinnicht, es gab aber zugleich Einblicke in Freundschaftsbeziehungen und gesellschaftlichen Status seiner Besitzerinnen. Auch wenn die Alben in jüngerer Zeit ein wenig aus dem Mode gekommen sind – es gibt sie nach wie vor.

 

„Wer heute einem jungen Mädchen ein paar Zeilen in sein Poesie-Album schreibt, ist sich meist nicht bewusst, dass er damit eine jahrhundertealte Tradition pflegt, die einst Adlige und Akademiker begründet haben“, erklärt Grit Arnscheidt. Die Kunsthistorikerin und frühere Mannheimer Museumsdirektorin hat in den Alben von sechs namhaften Mannheimerinnen aus der Deutschen Kaiserzeit geblättert – unter ihnen Helene Bassermann, Tochter eines der bedeutendsten Handelsunternehmers der Stadt, und Marie Joerger, die spätere Ehefrau des Unternehmers Friedrich Engelhorn. Dabei hat Arnscheidt auch die Geschichte der Poesie-Alben studiert. „Freundschaft ist das höchste Glück“, heißt der Titel ihres Buches. Auf knapp 130 Seiten blühen darin gute Wünsche, wohlgemeinte Ratschläge, idealistische Sinnsprüche und Treueversprechen. Vieles davon kommt einem auch heute noch bekannt vor und einer der Verse hat es mit „Marmorstein und Eisen bricht . . .“ über die Jahrzehnte hinweg sogar vom Albumspruch zum deutschen Schlager gebracht.

Der Brauch reicht zurück bis ins 16. Jahrhundert

Der Brauch, Menschen, denen man sich in besonderer Weise verbunden fühlt, um einen Eintrag in ein eigens für den Zweck angelegtes Album zu bitten, lässt sich bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen. Nach einer dem Reformator Philipp Melanchthon zugeschriebenen Äußerung sollen die Eintragungen zum einen der eigenen Erinnerung dienen und zum anderen vor allem auch den Nachkommen übermitteln, mit wem deren Besitzer „auf vertrautem Fuße gelebt haben und wer ihm in wahrer Freundschaft verbunden war.“

Eine Blütezeit erlebten die Freundschafts- und Gedenkbücher – noch immer fest in Männerhand – im 18. Jahrhundert als sogenannte Stammbücher von Studenten; sie bezeugen Reisen und Studienaufenthalte, viele von ihnen haben längst Eingang in Museen und Forschung gefunden. Johann Wolfgang Goethe gilt als einer der entschiedensten Verteidiger und treuesten Anhänger des Stammbuchbrauchs; er hat ihn in seinem Faust verewigt und sein eigenes Stammbuch ein Leben lang geführt. „Fromme Wünsche, Freundes Wort Waltet in dem Büchlein fort“, notierte er im Jahr 1832, nur 14 Tage vor seinem Tod.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts entdeckten die Mädchen die Alben

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam das Stammbuch in Kreisen von Studenten und Erwachsenen dann aus der Mode. Dafür wurden die Poesie-Alben bei jungen Mädchen beliebt. Der Besitz eines Albums, sagt Arnscheidt, sei bei den Töchtern des städtischen Bürgertums „als unverzichtbares Requisit heranwachsender Mädchen ein Teil gesellschaftlicher Konvention geworden“. Freundinnen, Lehrerinnen, Eltern und Verwandte haben zwischen 1874 und 1917 ihre Einträge in Poesie-Alben der Mädchen aus angesehenen Mannheimer Familien hinterlassen.

Die einen haben sich an die allgemein verbindlichen Lebensweisheiten gehalten, viele haben aber auch persönlich anrührende Bekenntnisse ihrer Freundschaft hinterlassen. Beim Blättern und Lesen staunt man, wie viele der Reime und Verse sich bis heute gehalten haben. Zudem zeigen die Poesiealben auch, „dass man schon lange vor Facebook auf diese Weise viele Freunde sammeln konnte“, stellt die Autorin fest. „Alben sind ja lange als reiner Mädchenkram abgetan worden – zu Unrecht“, erklärt Gritt Arnscheidt. „Man kann mit den Büchern nicht nur nachvollziehen, mit wem sie sich die Besitzerinnen gut verstanden haben, man kann auch erkennen, wie sie sozialisiert waren, kann Rückschlüsse ziehen auf ihre Bildung, darauf, welche Schulen sie besucht oder welche Sprachen sie gekannt haben. Das alles ist nicht nur stadt- sondern auch kulturgeschichtlich interessant“, sagt die Kunsthistorikerin.