Er überlebte haarsträubende Unfälle und gewann legendäre Autorennen: Hans Herrmann, der Schwabenpfeil. Teil 11 der Serie „Blick zurück“.

Region: Verena Mayer (ena)

Stuttgart - Die Rennerei hört nicht auf. Hans Herrmann springt vom Stuhl und holt Autogrammkarten, dann einen Stift. In der Mappe vor ihm sind Anfragen mit frankierten Rückumschlägen abgelegt. Zwei Stück pro Tag sind das Mindeste. In letzter Zeit waren es mehr. „Vielleicht denken die Leute: Jetzt kann er noch schreiben“, mutmaßt Herrmann, der seit Kurzem 85 ist. Seinen Geburtstag hat er in der Schweiz verbracht. So ist er dem größten Trubel entkommen. Dafür stapeln sich auf dem Besprechungstisch in seinem Büro nun Päckchen und Briefe, die der Jubilar noch auspacken und beantworten muss. „Das ist der Wahnsinn“, sagt Herrmann. Tja, so ist das, wenn man eine lebende Legende ist.

 

Hans Herrmann zählt zu den großen Rennfahrern der Nachkriegszeit. Er fuhr mit Stirling Moss, Juan Manuel Fangio, Herrmann Lang, Graf Berghe von Trips, Jo Siffert und Karl Kling. Und obwohl er sich meist in deren Windschatten befand, schaffte es der Schwabe, einer der bedeutendsten Sportfahrer der Republik zu werden. Er raste über den Nürburgring und durch Havanna, trieb seine Autos durch alle tauglichen Gebirge und spulte sämtliche Langstrecken ab. Hans Herrmann ist der einzige deutsche Rennfahrer, der die vier großen Klassiker seiner Zeit gewonnen hat: die 24 Stunden von Daytona, die zwölf Stunden von Sebring, die 1000 Kilometer von Paris und die 24 Stunden von Le Mans. Der Sieg in Frankreich gilt als der größte seiner Karriere.

Sein größter Erfolg ist aber ein anderer: Er lebt. Hans Herrmann hat Unfälle überstanden, die dem Wort spektakulär eine neue Facette hinzufügten. Und er verkraftete eine Entführung, deren Hintergründe bis heute nicht geklärt sind. Aus Hans Herrmann ist der Hans im Glück geworden. Dieser sagt: „Ich hatte Saudusel!“

Auf den Regalen in Herrmanns Büro stehen Mini-Maserati, Modelle von Ferrari, Borgward, Abarth und BRM, Nachbildungen von Silberpfeilen und Spyder sowieso. Herrmann gab für viele Hersteller Gas. Um den Kamin sind Pokale drapiert. Relikte seiner Erfolge. Die Wand ziert ein in Öl gemalter Porsche 917, der durch die Nacht rast. Herrmanns Siegfahrt in Le Mans. Auf dem Boden steht ein gerahmter Druck, der Herrmann bei der Carrera Panamericana 1953 in Mexico zeigt. Ein Geburtstagsgeschenk. Herrmann muss noch einen Platz dafür finden. Seit er seine Firma vom riesigen Erdgeschoss unter das kleinere Dachgeschoss seines Geschäftshauses in Sindelfingen-Maichingen verlegt hat, gibt es weniger Raum in seiner persönlichen Hall of Fame. Darum hat auch Sebastian Vettel noch nicht die perfekte Position bekommen. Die auf Leinwand gezogene Fotografie zeigt den Weltmeister im Gespräch mit dem Altmeister. „Ein wirklich sympathischer, liebenswerter Kerl“, findet Herrmann. Besonders gut gefällt dem 85-Jährigen an dem 25-Jährigen, dass er so bodenständig sei.

Aufgewachsen im Stuttgarter Bohnenviertel

Hans Herrmann wächst im Stuttgarter Bohnenviertel auf. Seine Mutter betreibt in der Hauptstätter Straße das Café Schlauder. Um ihren Sohn vor der Front zu bewahren, lässt sie ihn eine Ausbildung zum Konditor machen. 1946 kauft er sich sein erstes Auto, einen BMW 3/20. Kosten: weitgehend wertloses Papiergeld, Schmalz, Zucker, Kaffee, Zigaretten – und die goldene Halskette der Mutter. „Ich habe ihr so viel zu verdanken“, sagt Hans Herrmann. Offiziell läuft der BMW auf einen Arzt. Wegen der Treibstoffknappheit werden nur wenige Autos zugelassen. Herrmann fährt den Doktor zu Patienten und sich selbst in die Zukunft. Am 9. Februar 1952 nimmt Herrmann an seinem ersten Wettbewerb teil, an der Winterfahrt Hessen. Er lenkt jetzt einen Porsche 1300, ist Mitglied im Motorsport-Club Stuttgart und erfährt sich einen Ruf. 1953 wird der „rasende Konditor“ ins Werksteam von Porsche berufen. Von jetzt an geht Hans Herrmann als Profifahrer an den Start der Mille Miglia, der Targa Florio, des Schauinsland-Bergrennens, der Großen Preise und all der anderen Kurse.

Hans Herrmann staunt immer wieder, wenn er die Profis von heute sieht. Die Anzüge sind feuerfest, die Helme kugelsicher, die Lenkräder ähneln Computern. „Wir saßen anfangs in Polohemdchen im Auto und hatten ein Deckelchen auf, das Sturzhelm genannt wurde“, sagt Hans Herrmann. Mit 200 Sachen sind er und seine Kollegen in tollkühnen Kisten an Bäumen, Häusern und Zuschauern vorbeigedüst. Sicherheitsabstand? Fehlanzeige. Auslaufzone? Gab es nicht. Gurt war ein Fremdwort. Und wenn es krachte, brannten die Autos meist lichterloh. Die dünnen Benzintanks platzten eben schnell. „Wir waren wie Seiltänzer, die ohne Sicherheitsnetz einen Salto machen. Heute machen die Jungs dreifache Salti, aber sie haben einen doppelten Boden.“

Wenn Hans Herrmann an den Start geht, überlegt er oft, wer wohl heute abstürzt. „Der neben dir, vor dir, hinter dir?“ Oder er selbst? Seine Frau Magdalena hängt ihm oft Fotos verunglückter Kollegen an seine Tür. Günter Klass, Gerhard Mitter, Jo Siffert. Oder sie lässt den älteren der beiden Söhne Zettel schreiben, auf denen steht: „Denk daran, was du daheim hast.“ Und: „Tu langsam!“ Ein Rennfahrer, der langsam tut? Hans Herrmann schüttelt sich – und rast weiter. Wenn es sein muss, auch unter Bahnschranken hindurch (Mille Miglia 1954), mit auslaufendem heißem Öl über den Füßen (Hockenheim 1954) oder bei ermattenden 60 Grad ohne Erfrischung im Cockpit (Buenos Aires 1955). Auch seine schwersten Unfälle bremsen den Schwabenpfeil nicht.

Crash in Monaco

Der erste passiert am 19. Mai 1955 beim Training für den Großen Preis in Monaco. Hans Herrmann jagt seinen Mercedes F 1 die lange Steigung vom Hafen zum Casino hoch. Vor der Massenet-Kurve beim Hotel de Paris bremst er, ein Rad blockiert. Der Wagen bricht aus und fliegt mit Tempo 180 in eine Steinbalustrade. Es fehlt nicht viel und Herrmanns Kopf wäre auch weggeflogen. Mit einer übel verdrehten Hüfte, gebrochenen Wirbeln kommt der Rennfahrer ins Krankenhaus, wo er wegen falscher Behandlung fast doch noch im Jenseits gelandet wäre. Es dauert fast ein halbes Jahr, ehe Herrmann wieder Rennen fährt.

Den zweiten schier unglaublichen Unfall überlebt er am 2. August 1959. Beim Großen Preis von Deutschland versagen in der siebten Runde die Bremsen an Herrmanns BRM F 1. Mit 280 Sachen flitzt er auf die Südkurve der Avus zu, als er den Defekt merkt. Um nicht in die Zuschauermenge zu rasen, steuert Herrmann sein Auto in die Strohballen am Streckenrand. Der BRM hebt ab und überschlägt sich unzählige Male. „Das ist das Ende“, schießt es Herrmann durch den Kopf. Der Pilot wird aus dem Auto geschleudert, fliegt dem Wagen 70 Meter hinterher und kugelt weitere 60 Meter über den Asphalt. Am Ende liegt Herrmann mit Schürfwunden im Krankenhaus. „Welch ein Wunder“, schreibt die „Bild“.

Herr Engelmann kommt ins Büro. Er grüßt den Chef, zieht eine Bestellung aus dem Faxgerät und verschwindet wieder. Ins Lager, Abschleppstangen versandfertig machen. Herrmanns Mitarbeiter ist 70, aber er hat keine Lust auf Ruhestand. Also kommt er jeden Tag zur Hans Herrmann Autotechnik GmbH. „Wahrscheinlich hat er mich zum Vorbild genommen“, sagt der 15 Jahre ältere Inhaber und lacht. Auch er ist jeden Tag in der Firma. Immerhin mit reduziertem Pensum. Statt wie einst zwölf Mitarbeiter hat er heute nur noch zwei. Und das einzige Produkt im Sortiment ist die von ihm entwickelte Abschleppstange mit dem Namen „Nr. Sicher“. „Ich brauche einen Antrieb“, sagt Herrmann, der nach dem Sieg in Le Mans 1970 seine zweite Karriere als Geschäftsmann startet.

Entführer sperren ihn in den Kofferraum

Er vertreibt Anfahrhilfen, Schneeketten, Diebstahlsicherungen, Wagenheber und seine Abschleppstange. Außerdem vertritt er italienische Produzenten in Deutschland. Die Geschäfte gehen gut – und ziehen Verbrecher an. Am 13. Dezember 1991 wird Hans Herrmann entführt. Am Abend zuvor sind drei Gangster ins Haus der Herrmanns eingebrochen. Sie fesseln die Eheleute und drohen mit Pistolen. Am nächsten Morgen lassen sie Herrmann bei seiner Bank anrufen: Bald komme die Gattin und hebe eine hohe Summe ab. Man möge sich nicht wundern. Während Magdalena 300 000 Mark holt, sperren die Täter Hans in den Kofferraum seines Mercedes 500 und fahren ihn zu einem Parkplatz bei Warmbronn. Als sie das Lösegeld haben, geben sie Herrmanns Fundort bekannt und verschwinden. Die Polizei kann den Fall nie klären. „Das war bitter“, sagt der Hans im Glück. Und dass seine Frau noch heute zusammenzuckt, wenn es im Haus knarzt.

So, genug erzählt. Zeit fürs Mittagessen. Hans Herrmann steigt in seinen silbergrauen Mercedes CLS und fährt heim. Später kommt er wieder. Autogrammwünsche erfüllen, Dankschreiben diktieren. Die nächsten Tage sind voll mit Terminen. Porsche und Daimler haben ihren legendären Werksfahrer für Auftritte bei Werbeveranstaltungen gebucht. Das Fernsehen will mit ihm sprechen. Für Hans Herrmann gibt es immer was zu tun. Fast immer tut er es fröhlich. „Wenn man Situationen überlebt hat, wie ich sie überlebt habe, lebt man sehr zufrieden. Wenn mal was nicht klappt, mein Gott, dann klappt’s halt nicht.“

Eine Einsicht, kostbarer als jede Pole-Position.