Sein Bruder Manfred ist bei einem Rennen tödlich verunglückt. Joachim Winkelhock hatte bei seinen Unfällen mehr Glück. Folge 20 der Serie „Blick zurück“.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Korb - Als Manfred Winkelhock am 11. August 1985 auf einer kanadischen Rennstrecke verunglückt, schaut sich sein Bruder Joachim im Waiblinger Stauferkino einen Film des Spaßmachers Otto an. Heiterer Stimmung kommt er mit seiner Frau Sabine heim, schaltet noch „Sport im Dritten“ ein. Das Programm wird unterbrochen für eine Meldung: Manfred Winkelhock ist mit seinem Kremer-Porsche in eine Mauer gerast und hat wohl Beinbrüche. Ein Anruf bei den Eltern. Die wissen von nichts. Noch macht sich Joachim keine großen Sorgen. Unfälle sind in einer Rennfahrerfamilie nicht so selten. „Da wird er schön fluchen, wenn er mit seinem Gips den Rest der Saison ausfällt“, denkt der jüngere Bruder. Dann ruft Manfreds Teamkollege Marc Surer aus der Klinik an. Es sieht nicht gut aus. Die Eltern fliegen noch in der Nacht nach Kanada. Am nächsten Tag dringt die Stimme des Vaters via transatlantischem Telefonkabel vom Toronto Hospital in Joachim Winkelhocks Waiblinger Mietwohnung: „Manfred ist tot.“ Mit 33 Jahren. „Ich hab das erst bei der Beerdigung langsam begriffen“, sagt Winkelhock. Er nimmt sich vor, nie mehr in einen Rennwagen zu steigen. Und doch startet er später noch mal richtig durch. Vielleicht hat ihn der frühe Tod des Bruders erst zum Rennfahrer gemacht.

 

Er kommt pünktlich im schneeweißen, 330 PS starken Opel Insignia zum verabredeten Treffen. Neben dem bulligen Kombi wirkt der 1,70 Meter große Winkelhock, als müsste er da erst noch reinwachsen. Wenn er lacht, gewinnt sein markantes Kinn, das so typisch ist für die Winkelhocks und ein wenig an die Daltonbrüder bei Lucky Luke erinnert, noch mehr an Format. Er ist direkt vom Nürburgring angereist. Bevor er zum Hungaroring nach Budapest weiterfährt, macht er nur einen kurzen Zwischenstopp zu Hause in Korb. Dort lebt er, umgeben von Weinbergen voll fetter Trollingertrauben, mit Sabine und den Töchtern Sina und Nina. Ein Grimaldi gehört nach Monaco, ein Winkelhock ins Remstal.

Mit Topspeed in die Rechtskurve Richtung Waiblinger Altstadt

So selbstverständlich wie ein Bauernbub mit Viechern wird Joachim Winkelhock mit Autos groß. In der elterlichen Werkstatt dreht sich alles um Schrauben, Sprit und Einspritzpumpen. Aus diesem Biotop erwachsen Rennfahrer. Der Opa war schon einer, der Vater auch. Als Sechsjähriger kriegt Jockel, wie ihn alle nennen, ein Kettcar. Seine Hausstrecke: mit Topspeed die Waiblinger Talstraße runter, dann, ohne zu bremsen, in die Rechtskurve in Richtung Altstadt. Dazu braucht es so viel Schneid, wie die Eau Rouge in Spa mit Vollgas zu nehmen. Später steigt Joachim auf Matchbox-Autos um. Die neuesten Modelle gibt’s bei Spielwaren-Bubeck am Marktplatz. „Ich hatte sie alle.“ Dann verlagert sich sein Interessenschwerpunkt. Mit 16 lernt er Sabine kennen.

Während Manfred erste Erfolge als Rennprofi feiert, macht Joachim eine Lehre als Karosseriebauer und Lackierer. Danach arbeitet er im elterlichen Betrieb als Tankwart und Kfz-Mechaniker, schleppt Unfallwagen ab, beult sie notfalls wieder aus. Peter, der älteste Bruder, fährt Motocross, Thomas, der jüngste, fängt früh mit Rennen an, auch Joachim spürt das Winkelhock-Gen. Mit 18 leiht er sich von Manfred 7000 Mark für einen Renault 5 Alpine, fährt gute Ergebnisse ein. „Aber nicht mit dem Ziel, das mal beruflich zu machen. Daran hab ich nie einen Gedanken verschwendet. Wahrscheinlich hat mir das Selbstvertrauen gefehlt.“ Zu groß ist der Respekt vor Manfreds Leistung, der jetzt bereits Formel-eins-Fahrer ist und in der Sportwagen-Weltmeisterschaft startet.

Für Joachim Winkelhock bleibt es ein schönes Hobby – bis zu jenem Augustsonntag, als der Bruder mit Tempo 230 gegen die Betonmauer prallt. Ein Jahr vergeht, dann bekommt er ein Angebot als Pilot im Porsche-Cup. Eigentlich hat er sich und seiner Mutter versprochen: Es ist vorbei. Aber es juckt wieder. Irgendetwas arbeitet ihn ihm. In Selbstgesprächen sagt er sich: „Jetzt zeigst du es allen. Jetzt hängst du dich richtig rein.“ Der kleine Bruder will’s wissen. Er, von dem es immer hieß, dass er ja ganz ordentlich fahre, aber halt nie an den Manfred rankomme, will nun dessen Lebenswerk fortsetzen. Im Alter von 26 Jahren wird der Rennfahrer Joachim Winkelhock geboren.

Das Formel-Eins-Gefühl

Gleich im ersten Jahr gewinnt er den PorscheCup. Im folgenden Jahr könnte er bei WTS fahren, einem bis dato drittklassigen Formel-3-Rennstall. Mitinhaber: Willi Weber, der später als Manager der Schumacher-Brüder eine ganz große Nummer wird. Winkelhock unterschreibt. „Mit einem Formelwagen hast du ein völlig anderes Fahrgefühl. Du bist eine Einheit mit dem Auto, du bist das Auto.“ Er wird auf Anhieb Vizemeister. Im Jahr darauf steht er ganz oben. Joachim Winkelhock, der Shootingstar. „Der Erfolg gab mir viel. Die Gewissheit, dass ich was kann.“

Nach sehr schnellen Testfahrten in Silverstone will ihn Eddie Jordan für sein Formel-3000-Team haben – wenn er denn einen starken Sponsor mitbringt. Camel würde als Geldgeber mitspielen. Vielleicht auch, weil Joachim Winkelhock, Spitzname „Smoking Joe“, gern und viel raucht. Nur: auf Formel 3000 hat der Tabakkonzern keine Lust, wenn schon, dann Formel eins. Bald findet sich ein Cockpitplätzchen. Der französische Rennstall AGS nimmt den deutschen Newcomer unter Vertrag. Joachim Winkelhock auf dem Olymp des Motorsports. Sein AGS mit dem legendären V8-Cosworth-Motor beschleunigt in weniger als fünf Sekunden von 0 auf 200. „Am Anfang bin ich mit dem Schalten gar nicht nachgekommen. Das Formel-eins-Gefühl ist unbeschreiblich. Ein Ritt auf der Kanonenkugel.“

Er teilt sich die Piste mit den Superstars: Prost, Mansell, Piquet, Patrese. Ayrton Senna, den er bewundert. In Imola trifft er den Brasilianer bei der Streckenbegehung vor dem Rennen. Sie geben sich die Hand und gehen gemeinsam ein Stück des Wegs. Durch die Tamburello-Kurve, wo Senna Jahre später tödlich verunglücken wird. Joachim Winkelhock kennt die Highspeedpassage, die vor ihrer Entschärfung mit mehr als 300 Stundenkilometern genommen wurde, aus eigener Erfahrung: „Das Auto entwickelte einen so extremen Abtrieb, dass es kaum steuerbar war. Man fuhr da wie mit einer Lenkradsperre durch.“

Bei BMW blüht er auf

Joachim Winkelhock muss sich für jedes Rennen qualifizieren und merkt bald: Außer ihm hat daran gar keiner Interesse. Teamchef Henri Cochin geht es allein um Winkelhocks Sponsorendollar. Selbst damit hat AGS nur finanzielle Ressourcen für einen Wagen – den von Gabriele Tarquini, der Nummer eins in der AGS-Hierarchie. Winkelhocks Verhältnis zu Cochin gefriert zusehends. Journalisten berichten ihm von Testfahrten seines Teams. Er hat keine Einladung. In Monaco wird er mit vollem Tank in die Vorqualifikation geschickt, damit er ja nicht zu schnell ist. „Die haben mich verarscht“, sagt Winkelhock. Nach den ersten Trainingsrunden zum Großen Preis von Frankreich, dem siebten Rennen, steigt er aus dem Auto, geht zum Chef: „Das war’s!“ Der Franzose Dalmas übernimmt sein Cockpit – ebenso erfolglos. Am Saisonende hat das zweite AGS-Auto kein einziges Rennen bestritten. Winkelhock erlebt die Formel eins als eiskalte, oberflächliche Gesellschaft. „Da konnte ich nicht gut sein.“

Bei BMW blüht er auf. Für das Schnitzer-Team fährt er die Tourenwagenmeisterschaft. „Die waren wie eine Familie, die wollten mich nicht verbiegen.“ Winkelhock legt sich vor dem Rennen gern ein Stündchen hin. Bei Schnitzer darf er das. Man weckt ihn erst, wie gewünscht, eine Viertelstunde vor dem Start. In der Formel eins hätte man ihn wohl für verrückt erklärt.

In der BMW-Ära erlebt er seine großen Erfolge. 1991: Sieger beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring. 1993: Britischer Tourenwagenmeister. 1994: Sieger bei der Asien-Pazifik-Meisterschaft. 1995: Sieger beim Deutschen Super-Tourenwagen-Cup und bei den 24 Stunden von Spa. 1997: Erster gemeinsamer Urlaub mit der Familie in der Toscana. 1998: Sieger auf dem Stadtkurs von Macau, seiner Lieblingsstrecke („Ich hab es immer geliebt, hart an der Leitplanke entlang durch Häuserschluchten zu fahren“).

Der Triumph in Le Mans

1999 steht das Rennen in Mosport auf dem Kalender. Die Schicksalsstrecke seines Bruders. Im Training kommt Joachim Winkelhock durch Clayton Corner, eine schnelle, abschüssige Linkskurve. Da ist es damals passiert. Und sie ist immer noch brandgefährlich. „Eine lumpige Auslaufzone, dahinter die Mauer. Die Leitplanken mit Holzpfosten befestigt. Zum Teil keine Feuerlöscher an der Strecke. Unglaublich!“ Er und seine Teamkollegen verweigern den Start. Das ist er seiner Familie schuldig.

Im gleichen Jahr gewinnt er das 24-Stunden-Rennen von Le Mans. „Mein schönster Sieg“, sagt Winkelhock. „Als junger Bursche hab ich den Film mit Steve McQueen gesehen. Und dann stehe ich da selber auf dem Siegertreppchen.“

2000 wechselt er zu Opel, hängt noch vier Jahre Deutsche Tourenwagenmeisterschaft dran. Heute blickt er zurück auf eine Karriere, die er sich „nie zu erträumen gewagt hätte“. Und auf viel Glück: Crashs wie in Macau, wo er mit 230 Sachen über ein paar Autos in die Leitplanke flog, gab es ein Dutzend. Wie belastend das alles für seine Familie war, wird ihm erst nachher bewusst. „Aber sie wollten mir halt nichts verbieten.“

Es war gut, die Zielflagge zu hissen. „Ich hatte immer nur die Rennerei im Kopf. Immer war ich weg von daheim. Am Saisonende hat es mir dann regelmäßig die Füße weggezogen, da war ich zwar zu Hause, lag aber im Bett.“ Auch der Freundeskreis kam zu kurz. „Nach der x-ten Absage kriegst du halt irgendwann keine Einladung mehr.“

Der 52-Jährige ist jetzt Markenbotschafter für Opel. Er leitet die Sicherheitstrainings von OPC, der Motorsportabteilung des Konzerns. Bei Opel-Classic-Veranstaltungen röhrt er mit alten Boliden über den Asphalt wie früher. Trifft Strietzel Stuck oder Klaus Ludwig wie früher. Auf der Strecke hat er noch Speed, privat mag er es mittlerweile am liebsten gemütlich. „Meine Frau sagt oft: Mensch, fahr doch mal ein bisschen schneller.“