Das öffentliche Interesse ist schnell geweckt. Doch oft schläft es wieder ein. Zum Abschluss der Serie: Die Geschichte von Melanie Mantey, die in Algerien entführt wurde.

Region: Verena Mayer (ena)

Melanie Mantey ist 25, als sie berühmt wird. Das Foto, das um die Welt geht, zeigt sie am Flughafen in Köln-Wahn, wie sie aus einer Maschine der Luftwaffe steigt und winkt. Sie hat Ringe unter den Augen und nur noch 49 Kilo auf den Rippen. Doch Melanie Mantey lächelt. Nach acht Wochen Geiselhaft in der algerischen Sahara ist die junge Frau aus Göppingen, die in Bayreuth Geoökologie studiert, wieder daheim. Heute ist Melanie Mantey 35. Ihr aktuelles Zuhause ist Dresden. Vor einem Jahr ist sie mit ihrer Familie aus Göppingen dorthin gezogen. Davor haben die Manteys in Abu Dhabi gelebt. Nun Sachsen, wo Axel Mantey, der promovierte Kunststoffingenieur, einen Job angenommen hat.

 

Der Weg zum Elbufer ist kurz, der Garten groß. Die Kinder spielen. Leon, 8, schnitzt einen Spieß, Felix, 4, reiht Baumblätter auf einer Bank aneinander, Benjamin, 2, rollt Spielsachen in einer Kiste spazieren. Ihre Mutter erzählt drinnen im Haus die Geschichte ihres Lebens. Die Kinder haben sie noch nie gehört, sie sind zu jung. Melanie Mantey fasst die Geschichte mit diesen Worten zusammen: „Was wir erlebt haben, war ein großer Scheiß mit langen Folgen.“

Der große Scheiß beginnt als großer Traum. Am 1. März 2003 brechen Melanie, die damals noch Simon mit Nachnamen heißt, und ihr Freund Axel Mantey in den Urlaub auf. Vier Wochen Wüste mit ihrem Land Rover liegen vor ihnen. Das Paar hat sich über das Internet mit vier anderen Off-Road-Fans zusammengetan. Am Fährterminal in Genua treffen sich die sechs Urlauber und setzen nach Tunis über. Am 3. März überqueren sie die Grenze nach Algerien, tanken ihre drei Autos voll und düsen in die Wüste. Melanie ist fasziniert von den Blumen, die der Regen im Februar zum Blühen und Duften gebracht hat. Der goldene Sand, die schroffen Felsen, der lilafarbene Himmel am frühen Morgen, die funkelnden Sterne in der Nacht. „Das war toll.“ Nicht so toll läuft es in der kleinen Gruppe. Wie sich heraus stellt, hat Melanie eine andere Vorstellung vom Reisen als der informelle Anführer Andreas, der schon mehrfach in der Sahara war. Sie will lieber Land und Leute kennenlernen, er Kilometer reißen. Als sie in der südlich gelegenen Stadt Tamanrasset sind, überlegen Melanie und Axel, die Gruppe zu verlassen, eine andere Route zu wählen und alleine weiter zu fahren. Sie entscheiden sich dagegen. „Hätten wir das mal gemacht“, sagt Melanie Mantey heute. Wenige Tage später, am 21. März, wird die Gruppe entführt.

Die Tat im Tal von Tahaft

Im Tal von Tahaft treten ungefähr 30 Männer hinter Sträuchern hervor. Sie tragen Turbane, Umhänge, Kampfwesten mit Munitionsmagazinen und Kalaschnikows. Auf Französisch brüllen sie den Touristen zu, sie sollen anhalten und aussteigen. Doch der Anführer Andreas drückt aufs Gas und braust davon. Die Entführer rasen und schießen hinter ihm her, fangen ihn ein und ziehen ihm einen Gewehrkolben über den Schädel. Seine Beifahrerin erleidet einen (letztlich harmlosen) Steckschuss. Melanie, die sich mit einem stinkenden Handtuch verhüllen muss, hat Angst. Die Geiselnehmer stellen sich als Mudschaheddin vor, die der „Gruppe für Predigt und Kampf“ angehören. Sie erklären, dass die GPSC gegen die algerische Regierung kämpfe, weil diese die wahren Gläubigen verfolge.

In jenem Frühjahr des Jahres 2003 entführen die Terroristen insgesamt 32 Touristen in der Sahara. Melanie und Axel befinden sich letztlich in einer Gesellschaft mit 15 anderen Geiseln: vier weiteren Deutschen, einem in Bayern lebenden Schweden und zehn Österreichern. Welchen Zweck die Glaubenskrieger mit den Urlaubern verfolgen, verraten sie nicht. Das wissen die gar nicht, stellt Melanie bald fest.

Etwa drei Wochen lang zieht der Konvoi durch die Wüste. Nachts wird gefahren, tagsüber gerastet. Bis eine tiefe Schlucht erreicht ist, wo die Geiseln und ihre Bewacher erst mal bleiben. Die Mahlzeiten fallen anfangs so üppig aus, dass Melanie denkt, sie kehrt kräftiger zurück als sie aufgebrochen ist. Die Schränkchen in den Geländewagen der Gefangenen sind voll, und die Entführer teilen fair. Nudeln, Soße, Dosenwurst, Kartoffelbrei, abgepacktes Brot. Als die Vorräte aufgebraucht sind, gibt es meist Grieß oder Linsen, je nachdem, was die Entführer aus den Lagern der Nomaden rauben. Die Entführten bekommen ihr Gepäck zurück. So haben sie Seifen und Zahnbürsten, mit denen an den gefüllten Wasserlöchern zumindest etwas Körperpflege möglich ist. Melanie stellt fest, dass die ungewohnte Situation zur Normalität wird. Angst hat sie keine mehr. Sie ist sicher: Früher oder später kommt die Gruppe frei.

Lange Tage in der Schlucht

Ihre Eltern daheim in Göppingen werden schier wahnsinnig vor Sorge. Journalisten belagern das Haus, das Telefon steht kaum still. Dabei haben die Simons selbst kaum Informationen. Das Auswärtige Amt weiß (oder sagt) wenig. 5000 Soldaten durchsuchen die Wüste, Spezialkräfte der GSG 9 werden nach Algerien geschickt, der Innenminister Otto Schily reist hinterher. Nichts passiert. Für Melanie war dies „das Allerschlimmste“ an der Entführung: zu ahnen, dass es ihrer Mutter und ihrem Vater furchtbar schlecht geht.

Die Tage in der Schlucht sind lang. Sie vergehen mit lesen, Tagebuch schreiben und reden. Axel schmiedet Pläne wie ein Wilder. Dass sie sich ein Sofa kaufen, wenn sie wieder daheim sind; wie das Sofa aussehen soll. Und so weiter. Manchmal ist Melanie deshalb genervt, heute ist sie dankbar. „Das hat gegen die komplette Verblödung geholfen.“ Das Hirn wird träge, wenn man nur in der Sonne sitzt. Noch dazu mit Menschen, mit denen man nie und nimmer freiwillig so viel Zeit verbringen würde. Melanie frustrieren ihre Leidensgenossen mehr als es die Entführer tun. Sie versteht nicht, dass jemand lieber sein Brot verschimmeln lässt, statt es zu teilen. Oder eine Salami stibitzt, so dass sie der Gruppe fehlt. Melanie lernt: Menschen ändern sich in Ausnahmesituationen nicht, ihre Eigenschaften treten noch stärker hervor. Ein Schwätzer schwätzt noch mehr, ein Egoist wird noch egoistischer.

Nach etwa vier Wochen verlässt der Konvoi die Schlucht. Wieder werden die Nächte durchgemacht, nun zu Fuß. Der Diesel ist aufgebraucht. Die Märsche sind mühsam, alle sind geschwächt. Wenn das Knattern eines Hubschraubers zu hören ist, müssen sich die Gefangenen verstecken. Manchmal können die Geiseln mit einem Spiegel oder einer Taschenlampe Signale in den Himmel senden. Aber nichts passiert. Bis zum Morgen des 13. Mai. In der Nähe von Amguid krachen Schüsse durch die heiße Luft. Eine halbe Stunde dauert das Gefecht, bei dem mehrere Entführer sterben, dann sind alle 17 Geiseln frei – nach 54 Tagen. Im Flugzeug in die Hauptstadt Algier fragt Axel Mantey Melanie Simon, ob sie ihn heiraten will.

Eine Geisel in Bayreuth

Die Zeit der Eingewöhnung dauert länger als die Zeit der Entführung. Wenn ein Hubschrauber über Melanies Haus in Bayreuth fliegt, kriegt sie auch Monate später noch „eine Vollmeise“. Als sie erfährt, dass in der zweiten, noch immer verschleppten Gruppe eine Geisel an einem Hitzschlag gestorben ist, bricht sie zusammen und kann nicht aufhören zu weinen. Einmal hört sie zufällig jemanden sagen, die Entführten hätten selbst Schuld. Es sei leichtsinnig, Abenteuerurlaub in Algerien zu machen. Als im August die zweite Geiselgruppe (angeblich gegen ein Lösegeld von knapp fünf Millionen Euro) befreit ist, reden auch deutsche Politiker so. Wolfgang Bosbach von der CDU sagt zum Beispiel: „Wer sich leichtfertig und um des Nervenkitzels willen in Gefahr bringt, muss auch damit rechnen, dass er an den Kosten für die Rettung beteiligt wird.“ Letztlich soll Melanie 1100 Euro zahlen, für den Flug von Algier nach Köln sowie Telefon- und Verwaltungskosten. „Das ist eine Summe, die weh tut, für die es sich aber nicht lohnt, einen Streit vom Zaun zu brechen“, sagt Melanie Mantey, die sich noch heute über diese Rechnung ärgert. Nicht einmal ansatzweise leichtsinnig sei der Urlaub gewesen. Eine Reisewarnung für Algerien hat das Auswärtige Amt am 7. April 2003 herausgegeben, da sind schon 30 Touristen verschollen.

Erst als das neue Jahr beginnt, endet für Melanie Mantey die Geiselhaft wirklich. Sie hat sich die Erlebnisse von der Seele geredet, das Interesse der Medien lässt nach – und der Land Rover kommt zurück. Soldaten haben ihn, verbeult und vergammelt, in der Wüste gefunden, der ADAC brachte ihn nach Bayreuth. „Als 2004 angefangen hat, hatte ich das Gefühl: Es ist vorbei. Das ist wieder mein Leben“, sagt Melanie Mantey, die im Herbst 2003 noch eine eigentümliche Nachricht erhielt. Abdullah, einer der Entführer, rief an, um nachträglich zur Hochzeit zu gratulieren. Aber die Manteys waren nicht zuhause, ein Mitbewohner der WG richtete die Glückwünsche aus.