Erich Schmeckenbecher singt seit bald vier Jahrzehnten alte deutsche Volkslieder. Ein Hausbesuch bei dem Mitbegründer von Zupfgeigenhansel.

Manteldesk: Thomas Schwarz (hsw)

Lorch - Fast 37 Jahre ist die Schallplatte jetzt alt, kaum zu glauben: Zupfgeigenhansel – Volkslieder 1. Ein Geschenk meiner älteren Schwester zum 14. Geburtstag. Sie hatte mich mit ihrem Faible für Folkmusik angesteckt, zuerst mit französischer von Alan Stivell und Malicorne, dann mit deutscher: mit der Gruppe Ougenweide, die in den 1970ern Erfolge feierte mit Musik zu mittelhochdeutschen Texten von Walter von der Vogelweide oder Neidhart von Reuental. Nun lag Zupfgeigenhansel auf meinem Plattenteller. Ich hörte Volkslieder, die aus vergangenen Jahrhunderten stammten und trotzdem hochaktuell waren. Das „Lied der Pariser Kommune“ und „Ich bin Soldat“ passten in eine Zeit, in der die Friedensbewegung immer stärker wurde und sich im Widerstand gegen die Atomkraft ein neues basisdemokratisches Selbstbewusstsein regte.

 

Für mich, den pubertierenden Zögling einer Klosterschule, war es zudem eine rebellische Lust, voller Inbrunst „Es wollt ein Bauer früh aufstehn“ mitzusingen, ein Lied, das die Bigotterie des Klerus mit derbem Humor vorführt: „Und als der Bauer in d’ Kammer kam, stand der Pfaff da, zog sein Hosen an, falteri-tarallala fateri-tara.“ Beim ersten Liebeskummer half „Stets I trure mueß i lebe“, gesungen im vertrauten alemannischen Dialekt des Schwarzwaldes, wo ich aufgewachsen bin: „Bis die Berge tuen sich büge, und die Hügel senke sich, bis der Tod mir nimmt das Lebe, so lang will i liebe dich.“ Genau das richtige für einen Teenager, der gerade zum ersten Mal ein Vollbad in Selbstmitleid nahm.

37 Jahre später öffnet sich die Haustür eines alten Bauernhauses in einem kleinen Dorf bei Lorch. Ein drahtiger Mann mit Schiebermütze auf dem Kopf und freundlich-neugierigem Blick macht auf. „Wir sagen du, gell? Ich bin der Erich.“ Das ist er also, Erich Schmeckenbecher, der zusammen mit Thomas Friz Zupfgeigenhansel gegründet hat. Auf der Rückseite des alten Plattencovers sind beide abgebildet, Thomas Friz mit wallendem Haar, Erich Schmeckenbecher mit schwarzem Vollbart. Der ist zwar weg, aber das Gesicht ist unverkennbar. Und die Stimme: Bei Käsekuchen und Kaffee erzählt er, wie es zu Zupfgeigenhansel kam. „Ich hab auf dem Sperrmüll eine Sammlung von Volksliedern mit dem Titel ,Zupfgeigenhansl’ gefunden“, sagt der 60-Jährige.

Auf der Suche in den Archiven

Das war also der Auslöser. Fortan suchten Schmeckenbecher und Friz in Archiven nach Liedern aus der Romantik. Manche hatten geläufige Melodien, etwa „Im Krug zum grünen Kranze“, andere vertonten sie selbst.

„Spinnt ihr, Volkslieder zu singen?“, wurden sie anfangs von Freunden gefragt, die mit dieser Art von Musik Heimattümelei und Drittes Reich verbanden. „Die Romantik wird oft als Wegbereiterin des Nationalsozialismus missverstanden“, sagt Schmeckenbecher. „Dabei waren die Nazis Pragmatiker, mit Romantik hatten die nichts zu tun.“ Genauso falsch sei es, in der Musik dieser Epoche nur ein Vehikel zu sehen, das die Zuhörer in Traumwelten befördert. „Den Idyllikern muss man die Romantik um die Ohren schlagen“, sagt Schmeckenbecher und lacht.

Vor ihm auf dem Tisch liegt Rüdiger Safranskis Buch „Romantik – eine deutsche Affäre“. Erich Schmeckenbecher bezeichnet das Werk als Meilenstein. „Safranski spricht darin aus, was ich schon immer vermutet hatte“, sagt er. „Das Romantische ist eine Geisteshaltung, die nicht auf eine Epoche beschränkt ist.“ Die alten Volkslieder sind Ausdruck dieser Gesinnung, die Schmeckenbecher mit Sängerkollegen wie Franz Josef Degenhardt, Konstantin Wecker oder Hannes Wader teilt. Musik für Menschen, die sich mit den herrschenden Verhältnissen nicht abfinden wollen.

Eine Provokation für Konservative

Die Gesellschaft verändert sich im Laufe der Zeit, doch im Kern bleibt vieles gleich. „Ich bin Soldat“ beklagt das Los der Wehrpflichtigen im deutsch-französischen Krieg des 19. Jahrhunderts. In den 1970ern, als es für Kriegsdienstverweigerer eine Gewissensprüfung gab, waren solcherlei Lieder für Konservative genauso eine Provokation wie zu ihrer Entstehungszeit. „Das gemeine Volk hat wenig am Rad der Geschichte drehen dürfen“, sagt Schmeckenbecher. „Das hat die einfachen Leute aber nicht abgehalten, mit ihren Liedern Spuren zu hinterlassen.“ Tief in den Archiven haben die Zupfgeigenhansel nach diesen Spuren gesucht und einige vergessenen Schätze gehoben.

In all diesen Liedern ist die Sehnsucht nach einem gerechten Miteinander, nach gemeinsamen Werten zu spüren. Als Philister bezeichneten die Romantiker einst jene, die nur ihrem persönlichen Gewinnstreben folgen und für die Freiheit daraus besteht, dass sie andere zu ihrem Vorteil ausnutzen dürfen. Schmeckenbecher spricht nicht von Philistern, er hat ein eigenes Wort kreiert: Pragmanten. „Recht ist, was nutzt, meinen die Pragmanten. Sogar Kultur muss sich auszahlen. Damit haben sie das Musikgeschäft fast ruiniert.“ Die Romantik sei eine Geisteskraft, die solchen Zeitgenossen mit Spott auf den Pelz rückt samt deren pseudoromantischem Kitsch, der seinen Höhepunkt in Schlagertexten à Hartmut Engler findet. „Komm mit ins Abenteuerland? Warum? Da soll ich auch noch den Verstand verlieren – lieber nicht.“

Von 1974 bis 1986 existierte die Gruppe Zupfgeigenhansel. Als letzter Auftritt gilt jener beim Konzert der amerikanischen Folk-Legende Pete Seeger 1986 in Bochum. Nach zwölf Jahren konnten Erich Schmeckenbecher und Thomas Friz nicht mehr miteinander, wie es häufig bei Künstlern ist, die eigentlich Individualisten sind, aber eine weite Strecke gemeinsam zurückgelegt haben. Neun Zupfgeigenhansel-Alben entstanden, zuletzt 1985 „Andre, die das Land so sehr nicht liebten“ mit Texten des österreichischen Dichters Theodor Kramer. Der Erfolg der Gruppe ist auch Conny Plank zu verdanken, einem genialen Musikproduzenten, dem es gelang, die Atmosphäre der Zupfgeigenhansel-Auftritte in Studioaufnahmen festzuhalten. Plank ist früh gestorben und fast vergessen.

Zupfgeigenhansel belebt die Klezmermusik wieder

„Volkslieder I“ und „Volkslieder II“ begründeten den Mythos des Duos. Später wagten sich Schmeckenbecher und Friz auch an deutsche Dichtergrößen. „Novalis, Eichendorff, Schiller, Heine: das sind zu ihrer Zeit Störenfriede gewesen“, sagt Schmeckenbecher. Ist er selbst auch ein Störenfried? „Ja, aber mit dem Ziel, durch das Stören Frieden zu schaffen.“

Oder Versöhnung. Mit dem Album „Jiddische Lieder“ belebten Zupfgeigenhansel 1979 die Klezmermusik wieder, die bis dato seit mehr als 30 Jahren kaum mehr zu hören gewesen war. Das Duo wurde nach Holland eingeladen zu einem Konzert, das viele Holocaust-Überlebende besuchten. „Die Organisatoren haben sich gefragt, ob sie deutsche Musiker überhaupt einladen können“, erzählt Schmeckenbecher. „Viele Zuhörer hatten die grauenhaften KZ-Tätowierungen auf den Armen.“

Im nächsten Jahr feiert der gebürtige Stuttgarter Erich Schmeckenbecher sein 40-Jahre-Bühnenjubiläum. Beim Jubiläum zum dreißigsten Jahr kamen alte Weggefährten ins Theaterhaus. Bei dem Konzert standen neben ihm Hannes Wader, Konstantin Wecker, Klaus Lage, Liederjan, Lydie Auvray, Bernie’s Autobahnband, Hannes Bauer und Peter Maiwald auf der Bühne. Drei Jahre später ein weiterer Karrierehöhepunkt: gemeinsam mit Rüdiger Safranski und dem Pianisten Dirk Joeres trat Schmeckenbecher in Lorch auf. Joeres spielte Schumann, Safranski las aus seinem Buch, und der Zupfgeigenhansel Schmeckenbecher sang Lieder. „Schiller und die Romantik“ heißt die außergewöhnliche CD, die an diesem Abend entstand.

Schmeckenbechers aktuelles Live-Album trägt den Titel „Der Vogel Sehnsucht“. Zu hören sind Zupfgeigenhansel-Klassiker, instrumentiert nur mit Gitarre und Mundharmonika, darunter „Frische Fahrt“ von Joseph von Eichendorff. Die letzten Zeilen dieses Gedichts haben es Erich Schmeckenbecher besonders angetan. „Novalis fragt: Wohin gehen wir? Und gibt selbst die Antwort: Immer nach Hause. Wie dieses aussieht, entscheidet jeder für sich selbst. Manchmal weiß man es selbst noch nicht, so wie es bei Eichendorff heißt: Fahre zu! Ich mag nicht fragen, wo die Fahrt zu Ende geht.“