Die Freundinnen Claudia Lychacz und Sonja Molet sind blind. Das Leben meistern sie trotz vieler Rückschläge mit Haltung und Humor – und mit ganz besonderer Hilfe: von den Hunden Rover und Ron.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Ludwigsburg - Dass man als junger Kerl zwischendurch seine überschüssigen Kräfte loswerden muss, ist klar. Kein Wunder also, dass Rover es bei Claudia Lychacz’ verheißungsvoller Ankündigung: „Ihr dürft doch gleich, ihr Mäuse! Es geht bald ums Eck!“ vor gespannter Erwartung kaum aushält. Als der hellbraune Labrador-Golden-Retriever-Mischling und sein Kumpel, der schwarze Labrador Ron, von den Leinen dürfen, preschen sie los, sausen an Wiese und Acker entlang, schnüffeln sich durch Hecken und tollen übermütig miteinander. Zu hören sind sie dennoch immer: An ihren Halsbändern baumeln kleine Glöckchen. Sie schellen im Takt ihrer Bewegungen.

 

Das ist notwendig: Claudia Lychacz und Sonja Molet sind blind und auf die akustische Verbindung zu ihren Führhunden angewiesen. Die besagte Ecke, an welcher der Spazierweg entlang des Favoriteparks nach Osten abknickt, sehen die Frauen ebenso wenig wie den Radfahrer, der unvermittelt heransaust und durch die zwischen ihnen klaffende Lücke fährt – wohl in der Annahme, sie müssten ihn schon bemerkt haben. Ein falscher Schritt, und es würde unweigerlich krachen.

Um Haaresbreite am Crash vorbei

„Wenn die Radler nicht vorher klingeln, haben wir keine Chance“, sagt Claudia Lychacz. „Solche Situationen erleben wir oft, sogar wenn wir Armbinden und unsere Hunde ihre Kenndecken tragen.“ Für den Moment sind sie mal wieder mit dem Schrecken davongekommen. Jedem Radler, der sich rechtzeitig bemerkbar macht, rufen die Zwei ein „Danke!“ hinterher.

Die blinden Freundinnen und ihre Führhunde fallen auf. Nicht nur bei ihrer Runde im Grünen, die für sie – wenn sie nicht gerade an Kollisionen vorbeischrammen – Erholung ist. Sondern vor allem im Stadtbild. Wie sich die Frauen mit Hilfe der umsichtigen Tiere durch volle Straßen und über Kreuzungen bewegen, erregt Aufmerksamkeit. „Dabei wäre es schön, einfach als Mensch wahrgenommen zu werden, ohne sich jedes Mal erklären zu müssen“, sagt Lychacz. Doch wenn Rover sich an der Ampel aufrichtet, um seinem Frauchen den Ampelkasten zu zeigen, oder Ron eine Schranke als Hindernis identifiziert und Sonja Molet in großem Bogen drumherum führt, dann schauen die Passanten mit einer Mischung aus Bewunderung, Scheu und Erleichterung darüber, dass sie selbst sehend durch die Welt gehen können, dabei zu.

Das Lesen vermisst sie schmerzlich

Das konnten auch Claudia Lychacz und Sonja Molet einmal. „Ich war die größte Leseratte aller Zeiten. Das vermisse ich am meisten“, erzählt Lychacz. Der Grüne Star raubte der 40-Jährigen vom achten Lebensmonat an sukzessive das Augenlicht. Beim Abitur sah sie noch 50 Prozent, heute beträgt ihr Restsehvermögen zwei Prozent auf dem linken Auge. Lange mochte sie sich nicht eingestehen, dass sie auf Hilfe angewiesen ist. „Ich wollte immer kompetent sein, dazugehören. Und möglichst nicht behindert sein.“ Sie studierte zunächst für den gehobenen Dienst in der Steuerverwaltung, meisterte dann trotz Hürden ein Studium der Sozialen Arbeit an der evangelischen Hochschule – und lernte dabei Sonja Molet kennen.

Molet wurde mit vier Jahren abrupt aus der Welt der Sehenden gerissen: Sie erkrankte an der seltenen Neuromyelitis optica, besuchte später Spezialschulen für Sehbehinderte und Blinde. „Erst für das Freiwillige Soziale Jahr in einer integrativen Kita kam ich zum ersten Mal raus in die echte, raue Welt“, meint sie lakonisch.

Durch den Begleiter zurück ins Leben

Dass sie einander gefunden haben, empfinden sie als großes Glück. Sie teilen Freude und Leid. Und gerade was Letzteres betrifft, haben beide ihre Päckchen zu tragen. Operationen, neue Operationen und zahlreiche Rückschläge: Beide Frauen können von solcherlei Auf und Ab ein Lied singen. In Anbetracht dieser Anfechtungen geben sie sich bewundernswert stark, humorvoll und selbstironisch. „Wir lachen auch viel, so ist es nicht. Man kann ja nicht die ganze Zeit über sein Leben heulen“, sagt Claudia Lychacz. „Da muss man sich halt zwischendurch sagen: Jetzt raff dich mal und versuch’, es aus einer anderen Perspektive zu sehen.“ Während sie als Peer-Beraterin in einer Teilhabeberatungsstelle arbeitet, musste Sonja Molet ihre Berufstätigkeit als Jobvermittlerin bei der Agentur für Arbeit wegen ihres sich verschlechternden Gesundheitszustandes aufgeben. 2010 wurde sie, Anfang 30, verrentet: Der Tiefpunkt ihres Lebens.

„Die Perspektivlosigkeit, das Wissen, ein Leben lang auf Unterstützung vom Staat angewiesen zu sein, nichts mehr wert zu sein, sich umsonst durchgekämpft und studiert zu haben: Das hat mich unheimlich mitgenommen“, sagt die schmale 40-Jährige. Diese Gedanken nicht Oberhand gewinnen zu lassen, darum muss sie täglich ringen. Dabei helfen ihr ihre Freundin, die ehrenamtliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die sie für die Situation blinder Menschen sensibilisiert – und ihr Hund Ron. „Er hat mich wieder auf die Beine gestellt“, sagt sie und fährt dem Hund zärtlich durchs Fell. „Durch ihn bin ich viel weniger auf Hilfe angewiesen.“

Gratis-Eis für den Hund

Wobei er genau genommen nicht ihr gehört: Ron und Rover sind Eigentum der Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde, wo sie ausgebildet wurden. Bei den Blindenhundeschulen gibt es lange Wartelisten, und dass die Krankenkassen einem Blinden den vierbeinigen Helfer gewähren, ist nicht selbstverständlich. Doch durch die Hunde nehmen die Frauen viel aktiver am Leben teil – selbst wenn sie auch dafür mitunter kämpfen müssen. Die Barrieren, die sie zu überwinden haben, sind nicht nur physischer Art. Mal will ein Taxifahrer den Blindenhund trotz Beförderungspflicht nicht mitnehmen, mal soll das Tier beim Arztbesuch draußen bleiben. Aber auch Schönes und Ermutigendes erleben sie: Etwa, dass es bei der Eisdiele eine Gratis-Kugel für den eisvernarrten Hund gibt. Oder dass in der Stamm-Kneipe der Trinknapf automatisch mitgeliefert wird. Und jüngst, als Claudia Lychacz in der Klinik lag, durfte Rover sie sogar besuchen.

Doch ihren anspruchsvollen Job können die Tiere nicht bis ins hohe Alter ausführen. Rover ist mit vier Jahren noch ein Jungspund, doch Ron ist schon acht. Sonja Molet weiß, dass sie sich bald von ihrem Liebling trennen muss. Andere werden ihm einen schönen Lebensabend bereiten. Denn einen alternden, gebrechlicher werdenden Hund zu versorgen, ist für blinde Menschen eine enorme Herausforderung. „Manche schaffen es. Sie sind dann wieder als Stockgänger unterwegs und der Hund ist quasi ein normaler Familienhund“, erzählt Claudia Lychacz, „aber man muss sich diese Entscheidung sehr gut überlegen.“ Zumal der vierbeinige Gefährte dann nicht mehr der Helfer sein kann, als der er ausgebildet wurde. Dass der Abschied irgendwann ansteht, ist ein schwerer Gedanke. Und doch weiß Sonja Molet: „Das gehört zu unserer Verantwortung den Hunden gegenüber dazu.“