blocher partners zu Stadtentwicklung Zwei Architekten zeichnen die Zukunft Stuttgarts auf

Die Architekten Benjamin Blocher und Dieter Blocher sprechen über die Stadtentwicklung Stuttgarts. Das Architektur- und Designbüro blocher partners zeichnet in der Stadt und in Baden-Württemberg für einige große Projekte verantwortlich – wir stellen sie zum Interview in einer Bildergalerie vor. Foto: blocher partners

Stirbt der Handel in der Königstraße aus? Soll es mehr Siedlungen wie den Asemwald geben? Warum ist S 21 eine Jahrhundertchance? Das Vater-Sohn-Duo Dieter und Benjamin Blocher des Stuttgarter Planungsbüros blocher partners liefert im Interview einen klaren Blick in die Zukunft der Stadt.

Stuttgart - Es sitzen zwei Generationen am Tisch. Dieter und Benjamin Blocher. Vater und Sohn. Der eine spricht bedacht und mit Nachdruck, der andere energisch und forsch.

 

Zweiterer, Benjamin Blocher, ist seit März Teil der Geschäftsführung des Architektur- und Designbüros blocher partners, das seine Eltern, die Innenarchitektin Jutta und der Architekt Dieter Blocher vor über 30 Jahren gegründet haben. Es ist der logische Schritt für den 29-Jährigen, wie er vor dem Interview sagt, denn: „Ihr Büro war mein täglicher Spielplatz als Kind.“ Entwachsen aus den Kinderschuhen, folgte das Architekturstudium an der ETH Zürich, eine Hochschule mit internationalem Renommee.

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Jetzt ist er als Architekt und Stadtplaner zurück in der Landeshauptstadt, zurück im expandierten Arbeitszimmer der Eltern. „Ich habe das Gefühl, etwas beitragen zu können“, sagt er. Besonders am Herzen würden ihm die Themen Nachhaltigkeit und Transformation der Städte liegen. Sein Büroeintritt fungiert also gleichzeitig auch als Expertisen-Erweiterung, der nun elfköpfigen Geschäftsführung. Vertreten ist das Büro inzwischen an Standorten in Stuttgart, Mannheim, Berlin und Indien.

Im Interview sprechen die beiden Architekten über das Stuttgart der Zukunft, die Wohnungsnot samt vergessener Lösung der OB-Kandidaten, das Bahnprojekt Stuttgart 21 als Jahrhundertchance – und das Eltern-Sohn-Konstrukt in der Geschäftsführung.

Herr Benjamin Blocher, wir wollen keinen Blick in die Vergangenheit werfen, auch nicht über das Coronavirus sprechen. Lassen Sie uns über die Zukunft, über Stuttgarts mögliche städtebauliche Entwicklung sprechen. Malen Sie sich aus, Sie würden in 75 Jahren die Königstraße in Stuttgart entlang laufen. Was sehen Sie?

Benjamin Blocher: Hoffentlich sehe ich dann etwas anderes, als Ihnen jetzt jeder sagen würde, den sie fragen. Wenn wir heute schon sagen können, was wir in 75 Jahren sehen, oder was wir hoffen in 75 Jahren zu sehen, dann werden wir immer falsch liegen.

Hinter der Frage steckt ein Gedanke. Wird es in 75 Jahren die Läden, den Handel in der Innenstadt geben, so wie wir ihn jetzt kennen?

Benjamin Blocher: Seit den Sechzigern des letzten Jahrhunderts hat sich vor allem in der Fußgängerzone eine wahnsinnige Handelsfokussierung in der Innenstadt gebildet. Was wir in allen Projekten in der Stadt merken - und das Coronavirus wird die Entwicklung verstärken - ist, dass sich eigentlich alles wieder dahin zurückbewegt wie es vor dieser Zeit war. Es entsteht ein von den Funktionen her gemischter Raum, der natürlich Handel in den Erdgeschosslagen anbietet, der aber sicherlich hybridere Nutzungen wie Wohnen, Arbeiten und Freizeitaktivitäten zulässt. Wer sich vom Hauptbahnhof zum Gerber bewegt, wird keine reine Handelsstraße mehr sehen. Die Person, die dort in 20 Jahren leben wird, ist der urbane Stadtnomade, der in der Stadt arbeitet, der zu Fuß, mit dem Fahrrad oder den Öffentlichen fährt, der sich freut, wenn er abends in die nahe Kneipe und unten im Haus einkaufen kann.

Herr Dieter Blocher, sehen Sie das ähnlich? Und wenn ja, wenn sich der Handel, wie eben beschrieben, zurückwandelt, welche Chancen eröffnen sich für die Stuttgarter Innenstadt?

Dieter Blocher: Ja, das sehe ich genauso. Die Veränderung in der Innenstadt ist schwerpunktmäßig geprägt von der Konsumveränderung der Menschen. Ich glaube, Stuttgart ist im Vergleich zu anderen Städten relativ einsam auf der Piste, wenn es um Wohnen in der Innenstadt geht. In Zürich oder Mannheim, wo wir viel tätig sind, ist das innerstädtische Wohnen und das Forcieren darauf viel mehr ausgeprägt. Wir werden in Zukunft eine Konsumverlagerung erleben, die natürlich auch nachhaltigkeitsgetrieben ist. Das wird dazu führen, dass die Handelslandschaft nicht mehr so viele Flächen braucht, dass Häuser wie Karstadt, Kaufhof und C&A mehr und mehr von der Bildfläche weichen. Das führt dazu, dass diese Flächen zur Transformation freigegeben werden.

Und wenn wir wieder 75 Jahre nach vorne blicken, was wird dann in diesen Kaufhäusern sein?

Dieter Blocher: Das wird keine 75 Jahre mehr dauern. Ich gehe davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren viel passieren wird. Doppelt besetzte Kaufhäuser verzichten vielleicht auf einen Standort, wodurch etwas Neues entstehen kann. Es werden gemischtgenutzte Strukturen entstehen - natürlich weiter mit Handel im Erdgeschoss, aber in großem Maße auch Wohnen. Und das Wohnen in der Innenstadt hat einen ganz wesentlichen Einfluss auf die Sozialkontrolle.

Wohnen ist das eine, seit dem Coronavirus arbeiten wir mittlerweile noch mehr in den eigenen vier Wänden. Doch in der Innenstadt können wir keine großen Wohn- und Arbeitspaläste schaffen. Denn in der Stadt herrscht überhaupt schon ein Mangel an Wohnungen. Wie sehen Sie die Lage? Und welche Lösungen schweben Ihnen vor?

Dieter Blocher: Die Wohnungssituation ist eklatant schlecht, bedingt durch zu wenige und zu teure Wohnungen. Das wird man nur durch eine gesteuerte Sozialbindung in den Griff bekommen können. Durch sozialgebundene Wohnungsbauprogramme. Bei Neubauten wird heutzutage deshalb häufig ein Anteil an sozialgeförderten Wohnungen von 20 bis 30 Prozent berücksichtigt. Würde dies immer der Fall sein, würden auch die Grundstücke automatisch günstiger werden. Alles geht nach Angebot und Nachfrage. Das, was ich an Mietertrag aus einer Immobilie rausholen kann, kann ich proportional für das Grundstück bezahlen. Damit wäre eine normale und selbstgetragene Kontrolle und Veränderung möglich.

Benjamin Blocher: Wohnungsnot ist und wird in Stuttgart ein viel diskutiertes Thema bleiben. Die einen sagen, es brauche eine Mietpreisbremse, die anderen sagen, wir müssten mehr bauen. Ja, einerseits muss man viel bauen, andererseits aber auch den Sozialwohnungsanteil und eine Quotenregel verankern. In anderen Städten ist beispielsweise genossenschaftliches Wohnen ein viel größeres Thema. In Zürich, der vermutlich kapitalistischsten Stadt, die man sich vorstellen kann, gibt es ca. 25 Prozent Genossenschaften.

Bei der OB-Wahl haben sich die Kandidaten auch an Lösungen gegen die Wohnungsnot versucht. Nun sitzen hier zwei Architekten, die mir sagen können, ob und was davon Sinn ergibt. Aufstockung, Nachverdichtung oder Ausbau der Dachgeschosse. Ihre Meinung?

Dieter Blocher: Das sind kleine Sprünge. Mit denen lassen sich die erforderlichen Veränderungen nicht allein umsetzen. Schon das Thema Homeoffice schafft ja immense, zusätzliche Veränderungen. Plötzlich sind die Wohnungszuschnitte und Größen nicht mehr geeignet. Das wird der gegebenen Wohnungsknappheit zusätzlichen Druck verleihen. Diese Vorschläge, die Sie erwähnt haben, sind kurzfristig. Ich glaube, dass die Kandidaten noch nicht davon ausgegangen sind, dass allein durch den Handel ein derart großer Umbruch bei Flächen stattfinden wird.

Blicken wir raus aus der Stadt. Im Asemwald leben sehr viele Menschen, die sehr zufrieden sind, dort zu wohnen. Was steckt dahinter? Wäre das auch eine Lösung?

Dieter Blocher: Ich weiß, dass der Asemwald für die Bewohnerlandschaft, die sich dafür bewusst entschieden hat, eine ganz hervorragende Wohnqualität hat. Ich selbst habe mit meiner Frau zu Beginn meiner beruflichen Karriere in München im Olympiazentrum gewohnt, was ganz ähnliche Qualitäten hat. Und ich fand, es war für die Zeit auch eine gute Sache. Anstelle eines weiteren Asemwald-Projekts würde ich jetzt aber die Weiterentwicklung der Innenstadt forcieren. Dafür haben wir jetzt die Möglichkeit.

Herr Benjamin Blocher, was sind Ihre Gedanken zu den äußeren Stadtteilen Stuttgarts?

Benjamin Blocher: Ich glaube, wir müssen Stuttgart anders betrachten. Stuttgart ist im Gegensatz zu München keine Stadt, die ein riesiges Zentrum hat. In Stuttgart leben etwa 650.000 Menschen im Zentrum, mit der Agglomeration zusammen sind es 2,7 Millionen Menschen. Stuttgart ist als Stadt schon viel zersiedelter und polyzentraler als andere Städte und in der Metropolregion nochmals viel zersiedelter und nochmals viel polyzentrischer.

Das heißt?

Benjamin Blocher: Das führt eben dazu, dass die Stadtteile, die umliegenden Bezirke und Städte, die das Einzugsgebiet nach Stuttgart bilden, unterschiedliche Identitäten und Entwicklungen ausweisen. Das ist deshalb ein Riesen-Thema, weil durch die polyzentrale Gliederung der Stadt die Antwort ebenfalls nur polyzentral möglich ist. Deshalb kann man auf die Anforderungen der unterschiedlichen Stadtteile auch ganz unterschiedliche und ganz individuelle Antworten geben. Die Aussage, wir müssten die Dachgeschosse aufstocken und Baulücken schließen, erscheint mir deshalb etwas uninspiriert. Übrigens spielt sich die Qualität der Polyzentren nur dann aus, wenn diese auch effizient miteinander vernetzt sind. Wenn diese Vernetzung aber ausbleibt, und wir die Stadt lediglich mit zwei Stadtautobahnen zerschneiden, schöpfen wir das riesige Potenzial der Polyzentralitäten nicht aus.

Mit dem Rosensteinquartier entsteht in Stuttgart ein völlig neues Quartier, auch ihr Büro ist in der Entstehung involviert. Zuvor ist schon das Europaviertel neu in der Stadt entstanden, das als städtebauliche Jahrhundertchance angesehen wurde, aber nun eher einer Einöde aus Beton gleicht. Was wollen Sie besser machen?

Dieter Blocher: Durch die Tieferlegung der Bahntrasse ergibt sich ein großes Entwicklungspotenzial. Nämlich die Verwebung der Nordstadt mit dem Rosensteinpark. Das ist eine Jahrhundertchance. Bei allem Für und Wider zu Stuttgart 21 muss man sehen, dass da eine Stadtentwicklung und Neuschaffung von Wohnraum möglich gemacht wird, die einzigartig ist. Und die letztendlich auch zumindest über den Grüngürtel eine Direktanbindung von Cannstatt und Stuttgart-Ost ermöglicht.

Benjamin Blocher: Genau, Nordost und Cannstatt trifft sich im Rosensteinpark. Der Grund, warum dieses Europaviertel nicht integriert ist, ist der große Bankenblock, der vorne liegt. Wenn ich mir vorstelle, dass ich die Bahngleise nicht mehr habe, dann ergibt sich vor dem Bankenensemble eine Achse, die verschwungen die Königstraße fortführt. Es ist interessant, was in den Erdgeschossen dieser Banken in zehn Jahren passieren wird. Ich nehme an, dass sie sich transformieren werden. Mit Sicherheit. Wenn das Areal an die Innenstadt anschließt, hat Stuttgart 21 ein riesiges Potenzial. Ich glaube nicht, dass es entscheidend ist, ob ich eine Viertelstunde schneller in Ulm bin. Entscheidend ist, dass diese trennende Achse, das Bahnfeld, das durch den Kessel verstärkt wirkt, verschwindet. Das ist, ob einem der neue Bahnhof gefällt oder nicht, für die Stadt das allerbeste, was passieren konnte.

Nun haben sie ein Vater-Mutter-Sohn-Konstrukt in der Geschäftsführung bei blocher partners . Das ist sicherlich interessant. Herr Blocher, was können Sie von ihrem Sohn lernen?

Dieter Blocher: (lacht) Alles in Frage zu stellen.

Dann drehen wir die Frage um. Benjamin Blocher, was können Sie von ihrem Vater lernen?

Benjamin Blocher: Ich denke die große Qualität von ihm, und das ist auch ein großer Teil der Identität des Büros, ist die bauherrenorientierte Hingabe und gleichzeitig verbundene Innovationskraft. Das ist ein Aspekt, den ich wirklich lernen kann. Dass wir mit Bauherren über Jahrzehnte zusammenarbeiten, ist einzigartig.

Das Gespräch führte Julian Kares

Das Architektur- und Innenarchitekturbüro blocher partners zeichnet in Stuttgart und Baden-Württemberg für einige große Projekte verantwortlich. In der Stuttgarter Innenstadt etwa entsteht das Boutiquehotel EmiLu, in Feuerbach ein neuer Stadteingang. In Wendlingen verwandelt das Büro ein ehemaliges Industrieareal in ein urbanes Quartier zum Wohnen, Leben und Arbeiten.

Informationen zu diesen und weiteren Projekten finden Sie in unserer Bildergalerie.

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