Nach den Kämpfen mit mindestens 500 Opfern ist Ägypten geschockt – und gespalten wie kaum zuvor. Viele Menschen bleiben zu Hause, weil es sicherer ist. Unterdessen organisieren die Mursi-Anhänger neue Proteste.

Kairo - Kairo am Tag danach. Der große Platz vor der Moschee von Rabaa al-Adawiya gehört den Müllsammlern und Plünderern. Mit Kleinlastern transportieren sie ab, was noch zu gebrauchen ist. Hier stand seit mehr als sechs Wochen das größere der beiden Zeltlager der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. Von der Bühne vor der Moschee hielten die Führer des Protestes ihre aufwiegelnden Reden, in den Zelten, gebaut aus Plastikplanen und Holzlatten, kampierten Tausende. Nun liegt der Platz in Trümmern. Plastikplanen sind zerfetzt, von der Bühne ist nur das verkohlte Gerippe übrig, und mancherorts qualmt es aus dem Schutt. An einer zersplitterten Holzlatte flattert noch ein Porträt Mursis: „Gegen den Putsch!“ steht darunter.

 

Doch die jungen Männer, die jetzt auf dem Platz den Ton angeben, interessieren sich nicht dafür. Sie durchwühlen die Überreste nach Brauchbaren: eine Decke, ein Helm, ein Klappstuhl. Die Armee ist mit mehreren Panzern auf den Platz gezogen. Soldaten mit Gewehren über der Schuler überwachen die Szene. In ein paar Stunden soll hier alles wieder so sein wie früher. Der Verkehr soll fließen, als wäre nichts gewesen – keine Krise, keine Gewalt.

Die Kämpfe der Nacht haben aufgehört

Kairo am Tag danach ist erst mal ruhig. Die Kämpfe der Nacht haben aufgehört, die Demonstranten haben sich zurückgezogen. „Ich bin bis zum Sonnenuntergang geblieben, dann konnte ich nicht mehr“, berichtet Essam al-Din. Der bärtige Endvierziger ist Mitglied der radikalislamischen Gamaa al-Islamiya, und seit Mursis Sturz Anfang Juli hauste er in einem Zelt im Protestlager. „Wir hatten am Abend vor der Räumung gehört, dass es bald losgeht, und waren vorbereitet“, erzählt er.

Verschanzt hinter Sandsäcken hätten sie den Angriffen der Sicherheitskräfte zunächst getrotzt. „Doch dann kam ein Hubschrauber und nahm uns aus der Luft unter Feuer. Dabei starben zwei meiner Freunde“, sagt er. Er brachte ihre Leichen am Rande des Platzes in ein provisorisches Krankenhaus und versteckte sich anschließend nahe der Moschee. Er habe sich nicht verteidigt, und auch die Demonstranten in seiner Nähe hätten nur Steine geworfen. „Wir haben keine Waffen. Die Regierungsmedien lügen “, schimpft er. Die Motivation der Regierung hinter der Verbreitung solcher Falschmeldungen sei klar: „Die wollen uns plattmachen, aber ihre Strategie wird nicht aufgehen – wir kommen wieder.“

Die Polizei weist alle Schuld von sich

Kairo am Tag danach kennt aber auch noch eine andere Wahrheit. „Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Die Räumung wurde notwendig, nachdem alle Versuche, die Krise politisch zu lösen gescheitert sind“, sagt Hazem al-Bablawi, Ministerpräsident der Übergangsregierung, in einer Ansprache an die Nation. Seinem Gesicht sieht man an, dass er es ernst meint. Von exzessiver Gewalt beim Polizeieinsatz könne keine Rede sein, die Polizei habe keine Schusswaffen eingesetzt, so eine Erklärung des Innenministeriums. Für die Gewalt seien die Mursi-Anhänger verantwortlich. Sie hätten sofort das Feuer eröffnet, als die Räumung begonnen habe. Ähnlich sieht es die Mehrheit der ägyptischen Medien: „Die Muslimbrüder setzen Ägypten in Brand“, lautet die Schlagzeile in der unabhängigen Zeitung „Al-Watan“.

Kairo am Tag danach. Das Chaos, die hohe Zahl der Toten, die bald stündlich steigt und nach Regierungsangaben bei landesweit mehr als 500 Menschen liegt. Die Mursi-Anhänger sprechen sogar von 2200 Toten. All das lässt viele Bürger ratlos. Die Straßen von Kairo sind am Donnerstag nach dem Ende der Ausgangssperre leerer als sonst. Etliche Menschen bleiben aus Furcht vor Gewalt im Haus. Viele wissen nicht, was sie denken sollen. „Also eigentlich ist mir zum Feiern zumute“, sagt die Hausfrau Aischa Murad. „Endlich wurden diese Muslimbrüder vertrieben. Das war doch dringend notwendig.“ Die Polizei habe alles richtig gemacht, gut, dass sie hart vorgegangen sei. „Es blieb ihr doch keine Wahl“, sagt die junge Frau mit dem hellblauen Kopftuch, „es musste endlich wieder Ruhe in Ägypten einkehren.“

Zuhause ist es sicherer

Murad mustert die Bilder der Gewalt auf den Titelseiten der Zeitungen, die in einem Regal im Supermarkt liegen. Sie ist hergekommen, um rasch etwas einzukaufen. Dann schnell wieder nach Hause – da ist es sicherer. Aischa Murad kommt angesichts der Fotos von reihenweise aufgebahrten Leichen ins Grübeln. „Das war ziemlich brutal. Ob das wirklich das Ende der Krise ist?“ Murad hat Sorge, dass die Islamisten jetzt erst recht auf die Straßen gehen. „Gott steh uns bei“, sagt sie zum Abschied.

Nach den Kämpfen ist vor den Kämpfen. Die Justizbehörden verlängern am Tag nach dem schlimmsten Gewaltausbruch seit Beginn des Arabischen Frühlings die Haft des Ex-Präsidenten Mursi um 30 Tage. Am Donnerstagnachmittag stürmen Hunderte Anhänger der Muslimbruderschaft den Dienstsitz des Gouverneurs der Provinz Gizeh, und rund 3000 Islamisten sperren die Straße vor der Kairoer Al-Iman-Moschee ab, wo fünf Opfer liegen.

Ein langer Weg zum demokratischen Neuanfang

Verängstigt sind vor allem die ägyptischen Christen, mehr als vierzig Kirchen wurden angegriffen. So etwa die Kirche der heiligen Maria im oberägyptischen Minya. Es flogen Steinen und Molotowcocktails, Scheiben gingen zu Bruch, dann brach ein Feuer aus. „Es gibt eine unglaubliche Welle der Gewalt, die Sicherheitskräfte hatten nicht mit diesem Ausmaß gerechnet“, sagt Emad al-Erian, Mitbegründer der christlichen Bewegung „Jugend von Maspero“. Zumal zeitgleich auch Polizeistationen und Regierungsgebäude attackiert worden seien. „Die waren schlicht überfordert“, urteilt Emad al-Erian.

In Ägypten am Tag danach liegt vieles in Trümmern und Scherben, es wird lange dauern, bis wieder Normalität einkehren kann. Und die Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang ist wieder ein gutes Stück kleiner geworden.