Warum greifen Jugendliche zu roher Gewalt? Was sind die Ursachen aggressiven Verhaltens? Die Bluttat von Lünen wirft viele Fragen nach den Ursachen und Gründen von Jugendgewalt auf. Wir sprachen mit einem Experten für Jugendkriminalität.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

München/Lünen/Stuttgart - Im Fall des getöteten Schülers im westfälischen Lünen gibt es Hinweise darauf, dass es zwischen dem Opfer und dem potenziellen 15-jährigen Täter im Vorfeld Streit gegeben hat. Der Grund ist erschreckend belanglos.

 

Täter fühlte sich provoziert

Nach der ersten Vernehmung des mutmaßlichen Täters am Dienstag berichten Polizei und Staatsanwaltschaft Unfassbares: Der mutmaßliche, 15 Jahre alte Täter war offenbar der Meinung, dass der 14-Jährige seine Mutter provozierend angeschaut habe. Mutter und Sohn warteten auf dem Flur der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Lünen auf einen Gesprächstermin mit der Sozialarbeiterin.

„Während des Wartens auf das Gespräch, traf das spätere Opfer auf den Täter. Nach Angaben des Tatverdächtigen, habe das Opfer seine Mutter mehrfach provozierend angeschaut. Dadurch fühlte sich der 15-Jährige derart gereizt, dass er seinen Mitschüler mit einem Messer in den Hals gestochen habe“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Staatsanwaltschaft und Polizei Dortmund.

15-Jährige gilt als aggressiv und unbeschulbar

Im Vorfeld der Tat sei es bereits zu Streitigkeiten zwischen dem späteren Opfer und dem Tatverdächtigen gekommen. Ob dies das letztendliche Motiv darstellt, müssten die weiteren Ermittlungen ergeben. Weiter heißt es: „Nach Einschätzung der Sozialarbeiterin gilt der polizeibekannte 15-Jährige als aggressiv und unbeschulbar und besuchte deswegen zwischenzeitlich eine andere Schule. Diese Maßnahme scheiterte und sollte nun wieder die Käthe-Kollwitz-Gesamtschule besuchen.“

Wenn aus Aggression Gewalt wird

Wie kommt es zu Aggression und Angriffslust unter Jugendlichen? Wovon hängt es ab, dass sich Frust und Provokation in aggressivem Verhalten äußern? Warum greifen Jugendliche zu solchen Mitteln? Wir fragten Thomas A. Fischer, Diplom-Pädagoge und Experte für Jugendgewalt beim Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München.

„Solche extremen Gewalttaten sind absolut die Ausnahme“

Herr Fischer, wie häufig sind extrem brutale Gewalttaten wie aktuell in Lünen unter Jugendlichen in Deutschland?
Solche extremen Gewalttaten sind absolut die Ausnahme. Das zeigen Statistiken und Studien eindeutig. Gerade Jugendgewalt ist kriminologisch sehr gut erforscht. Sie ist seit über zehn Jahren rückläufig, vor allem bei schweren Taten.
Was umfasst Jugendgewalt?
Bei Jugendkriminalität handelt es sich überwiegend um Bagatelldelikte – leichtere Straftaten, die in der Lebensphase Jugend passieren und entsprechend bewertet werden müssen. Schwere Gewalttaten und Tötungsdelikte sind ganz, ganz selten.
Eine Banalität kann der Auslöser von Gewalt sein, wie es auch im Fall von Lünen seitens der Polizei heißt. Wie kann es sein, dass ein angeblich provozierender Blick oder ein Anrempeln zu einem Ausbruch von Aggression führt?
Zu dem aktuellen Fall kann man derzeit noch wenig sagen. Das wäre spekulativ. Was man sagen kann: Die Lebensphase Jugend ist von tief greifenden Veränderungen auf personaler, emotionaler und sozialer Ebene geprägt. Jugendliche schaffen sich in dieser Phase ein Normen- und Orientierungssystem. Sie bauen sich eine eigene Identität auf, gestalten neue und neuartige Beziehungen. Diese Entwicklungen können von Konflikten geprägt sein, die die Jugendlichen dann bewältigen müssen.
Was banal erscheint kann also tiefer reichende Ursachen haben?
Genau. Man muss beim jedem solitären Ereignis die Hintergründe der Tat sehen. Was ist vorher abgelaufen? Wie ist die soziale Stellung des Jugendlichen? Wie ist die Beziehung zu anderen Jugendlichen?
Welche Rolle spielt die Schule?
Gerade in der Schule ist Mobbing ein Thema. Negative Erfahrungen und aufgestaute Emotionen können plötzlich zum Ausbruch kommen. Es spielen natürlich noch wesentlich mehr Faktoren eine Rolle wie Gewalterfahrungen im Elternhaus.

„Gewalt ist ein Mittel Macht auszuüben“

Aggression kann durch Frustration und Provokation ausgelöst werden. Was frustriert? Wer provoziert?
Die Frustrationstoleranz spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. In der kriminologischen Forschung wird dieser Faktor immer wieder als eine Erklärung für Aggression und Gewalt genannt. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern sich ein Frustrationspotenzial etwa durch Erfahrungen von Misserfolg, Exklusion oder Mobbingerfahrungen aufgebaut hat. Eine Provokation ist ein Faktor, der das Fass zum Überlaufen bringen kann, so dass die Gewalt ausbricht.
Gewalt beruht auch auf eigener Erfahrung im Elternhaus, in der Gruppe und Gesellschaft. Welche Rolle spielt Gewalt für Jugendliche als Erfahrungsstrategie?
Gewalterfahrungen, die im Laufe des Lebens gemacht werden, spielen eine große Rolle. Sie sind ein zentraler kriminogener Faktor für das eigene Verhältnis zur Gewalt. Wird Gewalt als Möglichkeit der Konfliktlösung gesehen, vielleicht sogar als einziges? Sind einem im Elternhaus andere Handlungs- und Lösungsalternativen zur Gewalt beigebracht worden?
Warum greifen Jugendliche überhaupt zur Gewalt?
Gewalt ist ein mögliches Mittel sich zu positionieren, Konflikte zu regeln, Macht auszuüben und sich durchzusetzen. Gewalt ist dabei die einfachste und banalste Möglichkeit Macht auszuüben. Andere Alternativen wie Streitigkeiten verbal zu regeln, werden gegebenenfalls gar nicht in Erwägung gezogen.

„Nie Aggressionen zu haben wäre pathologisch“

Gewalt und Aggression sind nicht dasselbe. Was unterscheidet sie?
Aggression ist ein fundamentales, unter anderem biologisch verankertes Verhaltensmuster des Menschen. Sie dient der Verteidigung von Hab und Gut, der Bewältigung potenziell gefährlicher Situationen. Es wäre pathologisch, wenn jemand noch nie Aggressionen in sich gespürt hätte. Entscheidend ist, wie man mit Aggressionen umgeht und sie auf die Handlungsebene transferiert.
Und Gewalt? Ist sie ausgeübte Aggression?
Gewalt ist eine für die Gesellschaft dysfunktionale - also sozial abträgliche aggressive Handlung. Gewalt ist ein Verhalten, das nie nur monokausal, durch eine einzige Ursache erklärbar ist, sondern immer multikausal ist und mehrere Ursachen hat. Sie wird durch Ursachen ausgelöst, die in der Persönlichkeit und/oder der Umwelt liegen. Und sie kann durch verschiedene Gefühle aktiviert, gehemmt und verstärkt werden.

Zur Person: Thomas A. Fischer

1981 geboren in Stuttgart

2002-2008 Studium der Erziehungswissenschaft an den Universitäten und Frankfurt am Main und Tübingen

2008-2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Krimonologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Universität Tübingen

2010 - 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum

Seit 2014 beim Deutschen Jugendinstitut (DJI) als Wissenschaftlicher Referent in der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention