In Villingendorf treibt die Menschen nur eine Frage um: Wann wird der flüchtige Kroate, der drei Menschen umgebracht haben soll, endlich gefasst. Am vierten Tag nach der Tat ist der Ort noch immer im Ausnahmezustand.

Villingendorf - Dichter Farn bedeckt den Waldboden, Polizisten in Schutzkleidung steigen über Äste, einer hat sich einen Holzstock geschnappt, mit dem er das Gebüsch durchstöbert. „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“, sagt Michael Schlüssler, der Einsatzleiter der Suche mit rund 70 Beamten im Wald von Villingendorf, einem 3300-Einwohner-Ort bei Rottweil. „Jemanden, der hier seit Tagen liegt, den sieht man“, sagt Schlüssler, der froh ist, dass der Dauerregen vom Wochenende vorbei ist, dass seine Leute nicht mehr frieren und klatschnass werden.

 

Der Leiter des Rottweiler Polizeireviers koordiniert die Beamten, die sich am Montagvormittag einer neben dem anderen durch das Unterholz arbeiten, sie bilden eine lange Kette, die nicht abreißen darf. Und sie alle haben nur ein einziges Ziel: möglichst bald den 40-jährigen Kroaten Drazen Dakic zu finden, der dringend verdächtigt wird, am Donnerstagabend drei Menschen mit einer Langwaffe erschossen zu haben – seinen sechsjährigen Sohn, den neuen Lebensgefährten seiner Ex-Frau und dessen 29-jährige Cousine. Danach ist er geflohen, sein Auto wurde im Nachbarort Herrenzimmern gefunden. Ein Zeuge hat Schüsse im angrenzenden Wald gehört, die Beamten überprüfen jede Spur.

In unserem Video äußert sich Michael Schlüssler, Einsatzleiter der Polizei, zu der Suche:

In einem gut-bürgerlichen Wohngebiet hat sich ein blutiges Beziehungsdrama abgespielt, das weit über die kleine Gemeinde hinaus Menschen erschüttert hat. Der Junge war wenige Stunden vor der Tat eingeschult worden, die Familie feierte mit Freunden den Tag, der so glücklich anfing und so traurig endete. Die Mutter konnte sich während der Schießerei zu Nachbarn flüchten und befindet sich mittlerweile in einer Klinik, ein dreijähriges Mädchen versteckte sich in der Einliegerwohnung und blieb unverletzt. Ein weiterer Gast war gerade Getränke holen gegangen und blieb deshalb verschont.

Alle im Ort fragen sich: Wo ist der Tatverdächtige?

Es ist eine einzige Frage, die den ganzen Ort beschäftigt, die überall gestellt wird, beim Bäcker, im Rathaus, in der Apotheke: Wo ist der Täter geblieben?

„Wenn er im Wald ist, dann finden wir ihn“, ist sich der Einsatzleiter Schlüssler sicher. Er zieht eine Karte aus der Tasche, die das Einsatzgebiet zeigt. Noch liege ein gutes Stück Arbeit vor den Beamten, sie hätten erst die Hälfte der Fläche durchforstet. Vermutlich gehe die Suche am Dienstag weiter. Schlüssler hält es für denkbar, dass sich der europaweit zur Fahndung ausgeschriebene Familienvater selbst getötet hat. Mit Waffen konnte der ehemalige Soldat umgehen, die Tatwaffe könnte aus militärischen Beständen des ehemaligen Jugoslawien stammen, vermutet die Polizei.

„Der ist vielleicht schon längst über alle Berge“, sagt die Frau, die am Tatabend zusammen mit ihrem Mann die Polizei telefonisch alarmiert hat. Es war gegen 22 Uhr am Abend, sie dachte erst an ein Feuerwerk. Sie ist eine Nachbarin der erst im März nach Villingendorf gezogenen Familie, die in einer Einliegerwohnung mit Garten untergekommen war. Der Vermieter lebe den Sommer über in Frankreich, erzählt sie, aus dem Internet habe er von der schrecklichen Tat in seinem Haus erfahren.

Die Nachbarin kannte alle Drei vom Sehen, sie weiß, dass die Autos der Familie noch in der Straße parken, in einem hängt ein goldenes Kreuz am Rückspiegel, eine leere Red-Bull-Dose steht in der Mittelkonsole „Die wollten für sich sein“, berichtet die Nachbarin. Sie hat einen freien Blick auf das Haus, das mit einem Flatterband der Polizei abgesperrt ist, davor stehen Beamte und besprechen die Lage. Jemand hat ein Windlicht in den Vorgarten gestellt und es angezündet, daneben liegen mehrere Blumensträuße.

Viel Kontakt habe es nicht gegeben, sagt sie, die Familie habe zurückgezogen gelebt. An den Gerüchten, dass der Ex-Partner der Familie nachgestellt habe, will sie sich nicht beteiligen. Fest steht aber, dass der Kroate polizeibekannt und schon zweimal verurteilt worden ist, unter anderem wegen Körperverletzung.

Am Wochenende wurde ein Kinderflohmarkt abgesagt – aus Gründen der Vorsicht

Die Angst, dass der Täter noch lebt und sich womöglich gar nicht ins Ausland abgesetzt hat, lässt in Villingendorf die Einwohner besonders achtsam sein. Am Wochenende wurde ein Baseballturnier abgesagt, ein Kinderflohmarkt wurde gar nicht erst aufgebaut. Der Bürgermeister Karl-Heinz Bucher bringt es auf den Punkt: „Wir sind seit vier Tagen im Ausnahmezustand“, sagt er. Er gibt in seinem Besprechungszimmer den Medien ein Interview nach dem anderen. „So etwas hatten wir noch nie.“

Berührt ist er davon, wie der Ort zusammenhält. Der Gasthof habe umsonst Kaffee für die Einsatzkräfte geliefert. Ein Zimmerer stellte noch in der Tatnacht kurzerhand seine Betriebshalle als Ort zum Aufwärmen für alle Helfer zur Verfügung. „Die Leute sagen ‚Wir lassen uns nicht einschüchtern’“, betont Bucher und hofft, dass der Fall ein schnelles Ende findet. „Gewissheit wäre gut“, sagt der Bürgermeister, der seit Tagen nichts anderes macht als Krisenmanagement. Eines will er sich aber an diesem Montagabend nicht nehmen lassen: die Eröffnung der erweiterten Kinderkrippe. Etwas Normalität in dieser schweren Zeit.