Ein Musiker bekommt die höchsten literarischen Weihen. Die einen feiern – die anderen mokieren sich.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart/Stockholm - Wie viele Scherze schon darüber gerissen worden sind, dass ausgerechnet er ausgewählt werden könnte, vermag niemand zu zählen. Am Ende der launigen Worte wurde diese Möglichkeit aber stets als völlig unrealistisch eingestuft. Aber nun ist dieser völlig unwahrscheinliche Fall plötzlich Realität geworden. Ausgerechnet Bob Dylan erhält den diesjährigen Nobelpreis für Literatur.

 

Kein Autor, sondern ein Musiker – erstmals in der Historie dieses altehrwürdigen Preises. Die hochmögenden Kandidaten, die seit Jahren zum Kreis der Favoriten für die bedeutendste Auszeichnung des literarischen Lebens zählen, gehen wieder einmal leer aus. So könnte man das formulieren. Man müsste diesen Satz allerdings prompt relativieren. Denn so oft Haruki Murakami, Philip Roth und wie die anderen Großliteraten auch alle heißen mögen seit Jahren zur engeren Auswahl gezählt wurden, so häufig fand sich bei näherer Betrachtung dann auch Bob Dylan auf der Liste jener, die den Literaturnobelpreis endlich einmal verdient hätten.

Ein guter Musiker – aber ein Genie des Wortes

Das musste seine Gründe haben, und das hatte auch seine Gründe. Denn Songwriter gibt es sehr viele, sogar gute Songwriter gibt es sehr viele, aber vorzügliche Songwriter gibt es nur sehr wenige. Und wer unter all ihnen der herausragendste ist, darüber herrscht zumindest in der Welt der Musik weitestgehend Einigkeit: Das ist niemand anders als Bob Dylan.

Geehrt wird Dylan jetzt für seine ureigenste Qualität, das Schreiben. Denn vermutlich wird sogar er selbst nie über sich behaupten, dass es sich bei dem Musiker Bob Dylan um einen ausgezeichneten Sänger handele. Im Gegenteil: seine näselnde Gesangsstimme, über die sich schon Kübel voller Spott ergossen haben, ist vielleicht sogar die Achillesferse des Gesamtkunstwerks Bob Dylan. Geehrt wird er ebenfalls nicht als Instrumentalist – er ist ein guter und versierter Musiker, aber es gibt, auch da ist sich die Musikwelt einig, bessere.

Seine Songs werden die Ewigkeit überdauern

Geehrt wird Bob Dylan auf den ersten Blick nicht für seine Musik, wenngleich man ihm dafür jeden nur erdenklichen Lorbeer gönnen mag. Aber alle diesbezüglichen Preise hat er ohnehin längst abgeräumt; sie aufzuzählen (nur so zum Beispiel: Polar Music Prize, dreizehn Grammys und weltweit bald hundert goldene und Platinschallplatten) würde jeden Rahmen sprengen. Erwähnt seien allein die zwei Ehrendoktortitel der Universitäten von Princeton und St. Andrews, der Oscar für einen Filmsong, der Pulitzer-Sonderpreis und die Mitgliedschaften in der American Academy of Arts and Sciences oder der deutschen Akademie der Künste – allesamt Ausweise eines künstlerischen Wirkens, das deutlich über die bloße Rolle eines Musikers hinausweist.

Geehrt wird Bob Dylan natürlich trotzdem für seine Musik und die Songpreziosen, die er geschaffen hat. „Blowin‘ In The Wind“, „Don’t Think Twice, It’s All Right“ und „Like A Rolling Stone“, seine bekanntesten Lieder, sind nicht einmal typische Beispiele dieses Schaffens. Es sind dies Erfolge, die die Ewigkeit überdauern werden, aber das musikalische Œuvre des Gitarristen, Mundharmonika- und Tastenspielers muss in seiner Gesamtheit betrachtet werden. Die knapp vierzig Studioalben, die er von 1962 bis zum aktuellen, in diesem Jahr erschienenen „Fallen Angels“ eingespielt hat, sind Wegmarken in der Geschichte der Popmusik. Sie illustrieren eine enorme stilistische Bandbreite, die von Folk über Rock bis sogar hin zu einem Weihnachtsalbum reichen. Sie stehen aber auch dokumentarisch für die Entwicklung einer Kunstform, die einst als solche von der seriösen Kulturwelt überhaupt nicht akzeptiert wurde, heutzutage jedoch die omnipräsente und bei weitem populärste Kunstform ist. Einen gehörigen Anteil an diesem Wandel hat auch Dylan.

Der Gottvater des Songwritings

Geehrt wird Bob Dylan daher vor allem und aus gutem Grund für eine Qualität, die in der tagtäglichen Allgegenwart der Popmusik immer ein wenig untergeht: dass nämlich zu guter Musik auch gute Verse gehören. „Lyrics“ ist die englische Bezeichnung für Liedtexte, und bei wem sonst, wenn nicht bei Bob Dylan, könnte man diese Bezeichnung für bare Münze nehmen? Dylans Songs sind Lyrik. Und zwar große Lyrik. Unerreicht von allen anderen in seinem Genre. Weswegen die Jury auch nur beinahe recht hat, wenn sie ihre Entscheidung damit begründet, dass Dylan „neue poetische Ausdrucksformen im Rahmen der großen US-amerikanischen Songtradition“ geschaffen habe. Sie untertreibt damit nämlich. Bob Dylan hat die Songwritertradition wie kein Zweiter geprägt, und zwar nicht nur in Amerika, sondern rund um den Globus. Er ist längst so etwas wie der Gottvater des Songwritings.

Bob Dylan bedient sich in seiner Musik aus dem reichen amerikanischen Fundus, in ihr finden sich Country, Blues und Gospelanklänge ebenso wie die Zutaten Folk und Rock. Seine Texte hingegen speisen sich seit jeher aus der Ansicht, dem in der populären Musik weit verbreiteten Mittelmaß Komplexität und Ambition entgegenzusetzen. Sozialkritik und Reflexion über die politischen Weltläufte finden sich bei ihm, ernste Poesie, literarischer Anspruch und tiefschürfende Assoziationen über das menschlich-allzumenschliche Gefühlsleben; sinistere Momente weit mehr als die heiteren Seiten des Daseins prägen sein Werk. Man kann die Lyrik des unnahbaren Mannes, der zum Zeitpunkt der Bekanntgabe für das Komitee nicht einmal erreichbar war, nicht genug preisen. Alle Freunde gepflegter Popmusik werden heilfroh sein, dass „einer der ihren“ nun auch in den Olymp der Nobelpreisträger aufgenommen worden ist. Und: dass damit eine Kunst buchstäblich nobilitiert wird, ein künstlerischer Stil, aus dem man zum Beleg Verse ohne Ende zitieren könnte. Doch besser als das wäre die dringende Empfehlung, einfach auf einem beliebigen Dylan-Album in diesen Kosmos einzutauchen.

Seit 1988 ist er auf Welttournee

Geehrt wird schließlich auch eine Lebensleistung. Seit seiner Jugend beschäftigt sich Dylan, der im Mai 1941 als Robert Allen Zimmerman in Duluth, Minnesota geboren wurde, mit Musik. Seit Beginn der sechziger Jahre musiziert er hauptberuflich, und von einer denkbaren Ruhe auf dem Lorbeerkissen kann keine Rede sein. Dylan nimmt mit rastloser Konstanz auf, und bereits 1988 begann, was bis heute währt – seine „Never-Ending-Tour“, auf der der mittlerweile 75-Jährige Jahr für Jahr ohne Unterlass rund um den Globus reist und musiziert: am Tag der Bekanntgabe etwa in Las Vegas, an diesem Donnerstagabend in Kalifornien, am Sonntagabend in Phoenix, Arizona. Hierzulande war er zuletzt im vergangenen Sommer in Tübingen zu erleben. Es wird, so nichts Schlimmes dazwischenkommt, gewiss nicht das letzte Mal in Deutschkand gewesen sein.

Für ein Lebenswerk geehrt zu werden, ist das Grundwesen des Literaturnobelpreises. Auch so gesehen kann man die Entscheidung des Nobelpreiskomitees nicht in Zweifel ziehen. Infrage stellen könnte man sie dennoch. Man muss nicht dazu stehen wie der Literaturkritiker Denis Scheck, der die Wahl prompt als einen Witz bezeichnete, oder die Schriftstellerin Sibylle Berg, die süffisant kommentierte, dass sich „die Chancen für mich, den Nobelpreis in Physik zu bekommen, gerade dramatisch erhöht haben“. Man kann aber die Ratlosigkeit nachempfinden, mit der viele Menschen angesichts der wirklich fantastischen zur Auswahl stehenden Literaten auf Dylan blicken und fragen, warum die Jury ausgerechnet einen Musiker würdigt.

Doch die Wege der Nobelpreis-Komitees waren schon oft verschlungen und mündeten häufig in abseitigen oder zumindest verblüffenden Entscheidungen. Geehrt wurden schon Dramatiker, was zu gewissem Stirnrunzeln führte. Ausgezeichnet wurden auch schon Autoren, deren Werk wohl üppig, aber gewiss nicht von Weltruhm war. Man darf sich folglich sicher sein, dass die Jury hier über ihren eigenen Schatten springen musste und lange über die Tragweite dieser Entscheidung nachgedacht hat. Aber dass es sich um eine absurde oder abwegige Wahl handelt, kann man gewiss nicht sagen.