Bob Dylan hat das erste von zwei Deutschland-Konzerten gegeben. Es war das heiterste Dylan-Konzert, das unser Autor je gesehen hat.  

Mainz - Seine erste Bob-Dylan-Platte hat sich der Verfasser dieser Zeilen (kurz: VdZ) vor bald dreißig Jahren gekauft. Die Entscheidung fiel aus rein ökonomischen Gründen auf das 1979 erschienene Live-Doppelalbum „Live at Budokan“: Da waren für vergleichsweise wenig Geld jede Menge Lieder drauf – und vor allem all jene, die Claudia damals so schön am Lagerfeuer zur Gitarre sang. Der VdZ, der damals ein Bub war und ein bisschen in Claudia verliebt, legte die Platte auf – und war bitter enttäuscht.

 

Denn alles war anders: „Don’t think twice, it’s all right“ zum Beispiel, das Claudia versonnen gab, war ein herb zerhackter Reggae. Der VdZ legte die Platte erst Jahre später zum zweiten Mal auf, als er zum ersten Mal glaubte, die Pubertät überwunden zu haben. Da erst merkte er, wie genial diese Momentaufnahmen stetig weiterlebender Songs waren – und wie wunderschön. Seitdem hat der VdZ alle Platten von Bob Dylan gekauft und viele seiner Konzerte gesehen, zuletzt jenes am vergangenen Samstag im restlos ausverkauften Mainzer Volkspark, das erste von zwei Deutschland-Gastspielen Dylans in diesem Jahr.

Dylan widmet sein Keyboard zum Turngerät um

"Don't think twice, it's all right, das zweite Lied des Abends, ist nun eine wonnige Geisterbahnfahrt - mit gemütlichem Anschleichrhythmus, aber gespenstisch zerfurcht von der effektvoll implodierenden Stimme des neuerdings Siebzigjährigen. Dylan widmet dabei sein Keyboard zum Turngerät um; er lehnt sich drauf, federt, juxt und tänzelt, als baldowere er tatsächlich eine ironische Reminiszenz an den Rollator aus. Dies wird das heiterste, ja das ausgelassenste Dylan-Konzert, das der VdZ je gesehen hat - und auf eine Art auch das energiegeladenste.

Bob Dylan ist befreit in Mainz, auch von seinen Instrumenten. Sehr oft verlässt er seinen Keyboard-Ausguck und steht dann vorne am Bühnenrand, allein mit seinem schwarzen Hut und diesem einzigartigen, hochspannenden Trümmerhaufen von Stimme, während die sensationell trittsichere und überhaupt ganz ausgezeichnete Band das Instrumentale alleine besorgt. Gleich im dritten Song macht er diesen Ausflug, im beschwörend gebellten "Things have changed", das er zum Schluss anderthalb Takte lang mit drei Mundharmonikatönen veredelt. Es ist, wie wenn man den Sturm schon riecht.

Dylan hat der Düsternis Lebenslust abgetrotzt

Hernach, bei "Girl from the North Country" rupft Dylan lüstern die E-Gitarre. Dann rockt er, kernig, knackig, ehe er in der Mitte seines Konzerts "Tangled up in Blue" mit zwei wahrhaftigen Mundharmonikasoli, irrwitziger Phrasierung und fideler Gestik am Bühnenrand als ganz große Miniaturoper gibt. Nun kulminiert Dylans unbändige Energie auf beglückend sinnliche Weise: Wenn er die einzelnen Worte dieser Verzweiflungsode förmlich erbricht, glaubt man, die Intensität, mit der Dylan sein Lied auslebt, sei nicht mehr steigerbar. Aber wenig später gibt er "Desolation Row". Da steht er wieder am Keyboard, und es hat beinahe etwas Verschmitztes, Verschwörerisches, wie Dylan röhrt, dass eine gewisse Cinderella im "Bette Davis Style" ihre Hände in die Hosentaschen steckt.

"Everybody is making love tonight, or else expecting rain", singt Dylan in diesem Lied. Und er lässt in Mainz keinen Zweifel daran, dass er es vorzieht zu lieben: Mit welch ungezügelter Freude er in diesem Song seinem Keyboard ein simples, aber massives Solo entlockt! Wie ungetrübt klar er gleich darauf in "Thunder on the Mountain" sogar seine eigene Stimme neu erfindet! Mit welcher Lust er in diesem Lied sein Keyboard und Charlie Sextons Gitarre Pingpong spielen lässt! Wie berückend tief er sich in seine "Ballad of a thin Man" versenkt! Wie er schließlich in seine beschwörend zelebrierte Hymne "Like a Rolling Stone" eine unglaublich naheliegende, eine geradezu kinderliedhafte Melodie rammt, die der Verfasser dieser Zeilen noch nie zuvor gehört hat. Einfach brillant!

Der entfesselte Bob Dylan hat sich selbst und sein Publikum zwei Stunden lang mit all seiner Präsenz in einen einzigartig reichen Liederkosmos mit Sechziger-Jahre-Schwerpunkt katapultiert. Er hat der Düsternis Lebenslust abgetrotzt. So viel Überschwang hat er investiert, dass er ganz vergessen hat, seine Band vorzustellen. Auch das hat der VdZ noch nie erlebt, auch nicht, dass jemand seinen Zenit über Jahrzehnte hinweg zu dehnen vermag!