Bob Dylan legt sein famoses Album „Tempest“ vor, auf dem er klingt wie Tom Waits und mit dem er zeigt, dass er noch längst nicht an den Ruhestand denkt.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Als die Unterhaltungselektronikkonzerne Sony und Philips Ende der Siebziger die CD erfanden, konnten sie sich nicht über die Speicherkapazität des neuen Tonträgers einigen. Die Ingenieure bei Philips hielten eine Spielzeit von einer Stunde für ausreichend, doch der Vizepräsident von Sony intervenierte höchstpersönlich: Viele sinfonische Werke währten deutlich länger, so Norio Ohga. Die Philips-Entwickler sahen es ein, die maximale Länge einer CD wurde auf 74 Minuten festgelegt, und das sollte für viele Musiker noch wichtig werden.

 

Bob Dylan veröffentlichte zu jener Zeit gerade seine Studioalben neunzehn bis einundzwanzig, den Dreierschlag „Slow Train coming“, „Saved“ und „Shot of Love“, mit dem er seine Hinwendung zum Christentum dokumentierte und auch seinen ersten Grammy gewann. Damals hatte er sich schon lange entschlossen, sich auch eines „modernen“ Instruments wie einer elektrisch verstärkten Gitarre zu bedienen; längst hatte er sich auch damit arrangiert, niemals ein „schöner“ Sänger zu werden. Nasal nölt sein Organ seither, aber sei’s drum – für den Meister und seine Jünger zählten die Songs des besten Songwriters der Welt, dessen Exegese einen ganzen Berufsstand hervorbrachte: die Dylanologen.

Über die uneingeschränkte musikalische Vormachtstellung Dylans als Songwriter darf man streiten, der poetische Rang des Pulitzerpreisträgers hingegen ist mehr oder weniger unumstritten. Mittlerweile wird ja sogar alljährlich der Name Dylan geraunt, wenn es um die heißesten Kandidaten für den Literaturnobelpreis geht.

Faible für Altherrenrock

Einem neuen Dylan-Album wird jedenfalls noch immer entgegengefiebert. Die deutsche Ausgabe des „Rolling Stone“, dessen Redaktion freilich ein außerordentliches Faible für Altherrenrock (Rolling Stones, Bruce Springsteen et al.) kultiviert, widmet ihm in der Septemberausgabe ein zwölfseitiges Feature und lässt auch vom Titelbild lächeln . . . nein, das natürlich nicht, denn Aufnahmen, auf denen Bob Dylan ein frohgemutes Gesicht aufsetzt, existieren bekanntlich nicht.

Jetzt ist er jedenfalls wieder da. Exakt fünfzig Jahre nach seinem Debütalbum und dreißig Jahre nach der Erfindung der CD hat Dylan die Zahl seiner Studioalben von rund zwanzig auf nun 35 hochgeschraubt. Nach dem seltsamen Weihnachtsliederalbum von 2009 und dem letzten richtigen Longplayer „Together through Life“ ist seit diesem Freitag sein jüngstes Werk „Tempest“ auf dem Markt. Und es verblüfft. Die theoretisch denkbare Spielzeit einer CD, so viel zum eingangs erwähnten Umstand, hat er tatsächlich bis zur Neige ausgeschöpft, und so wie eine Sinfonie kann, nein: sollte man dieses in sich außerordentlich stimmige Album sogar vom ersten Takt bis zum Finalakkord durchhören. „Tempest“ zehrt von der stringenten Abfolge der Moritaten, die dieser kauzige Bänkelsänger seinem Publikum kredenzt. Ein abgründiges (wie üblich leider nur hör- und nicht in abgedruckten Songtexten nachlesbares) Panoptikum breitet Dylan in den zehn üppigen Songs aus, wunderbare Verse hat er erdichtet, kulminierend in dem knapp vierzehnminütigen Epos „Tempest“, in dem Dylan den Untergang der Titanic beschwört. Was für ein großartiger Geschichtenerzähler, noch immer.

Und die Musik? Der näselnde Duktus der Singstimme ist wie weggeblasen, Bob Dylan klingt, als hätte er bei Tom Waits ein paar Gesangsstunden genommen – hat er natürlich nicht, aber allein die Vorstellung ist schon köstlich. Altersweise klingt der 71-Jährige plötzlich, als wollte er all jene Kritiker Lügen strafen, die beim letzten Deutschlandabstecher seiner seit 23 Jahren nonstop andauernden „Never ending Tour“ noch unkten, dass es das ja nun wohl allmählich wäre mit der Musikerkarriere. Mild und vorzüglich orchestriert präsentiert sich dieses Album zudem.

Mal heiter-beschwingt, mal fidel fiedelnd

Instrumentiert ist „Tempest“ segensreicherweise ohne überbordende Keyboards und übermäßigen Mundharmonikaeinsatz, nur selten hört man die teuflische elektrische Gitarre. Mal heiter beschwingt wie in „Duquesne Whistle“, mal fidel fiedelnd im munter polternden „Narrow Way“, dann wieder bluesig wie in „Early Roman Kings“ oder akustisch-intim im hervorragenden „Tin Angel“ klingt dieses sehr famose neue Album.

Wollte man Bob Dylan also überhaupt etwas ankreiden, dann allenfalls, dass er sich – als klassischer Songwriter – mal wieder ein wenig weg von der kargen Fragilität hin zum üppigen Bandmusizieren bewegt. Vergleicht man dies mit anderen, jungen Kollegen, die mit ihren Weisen in die gleiche Kerbe wie Dylan schlagen – dem viel zu früh verstorbenen Vic Chesnut etwa, Robin Proper-Sheppard (Sophia), Conor Oberst und seinem Bandkollektiv Bright Eyes oder vielleicht noch Adam Green – könnte man diesem An-Sturm namens „Tempest“ fehlende Schroffheit, mangelnde ostentative Entrüstung oder Dylans Arrangieren mit den Verhältnissen ankreiden.

Könnte man. Muss man aber nicht, zumal da ja noch das Pfund einer Lebensleistung ist, mit dem Bob Dylan wuchern kann. „Verachtet mir die Meister nicht“, hieß es immerhin schon bei einem anderen großen Songwriter. Vor knapp 150 Jahren schrieb Richard Wagner diesen Satz in seine „Meistersinger von Nürnberg“. Er bleibt gültig.