Zum Auftakt seiner Deutschlandtour hat Bob Dylan in München in bebend sanftes Konzert gegeben. Und wieder mal viele seiner Fans überrascht.

München - Vieles von dem, was um Bob Dylan herum geschieht, wirkt wie ein surrealer Roman, an dem seit fünfzig Jahren geschrieben wird: Erst am Dienstag zum Beispiel wurde bekannt, dass im Schrank einer New Yorker Wohnung, die Dylan einst als Studio diente, Jahrzehnte später bei einer Haushaltsauflösung zufällig 149 Rohpressungen mit bisher unbekannten Demoaufnahmen Dylans aus den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren entdeckt worden sind. Und vor ein paar Tagen wurde das handschriftliche Manuskript seines Songs „Like a Rolling Stone“ in New York für zwei Millionen Dollar versteigert. Kein Kunstwerk an sich, sondern zunächst mal eine Gedächtnisstütze auf Hotelpapier.

 

Insofern kann man Bob Dylan nur beipflichten, wenn er in München zum Auftakt seiner diesjährigen Deutschland-Konzertreise mit kraftvoll schwebender Stimme singt, dass die Leute verrückt und die Zeiten seltsam seien: „Things have changed“ ist das erste Lied eines – das vorweg – großartigen Konzerts zu Beginn des Tollwood-Sommerfestivals. Seine Hutkrempe bewahrt den lichtscheuen Gesellen hinter der Dreifach-Mikrofon-Astgabel vor dem heimeligen Sonnenuntergangs-Orange, in das die Scheinwerfer die Gesichter seiner virtuosen Mitmusiker hüllen.

Dylan selbst, auch das bekundet er in „Things have changed“, ist längst nicht mehr Teil dieser aus den Fugen geratenen und dann warm getünchten Welt: Der 73-Jährige, der beispielsweise nur vom Verkauf seiner gebrauchten Papiertaschentücher luxuriös leben könnte, reist seit Jahrzehnten dauermusizierend um die Welt und legt in München das Arbeitsethos und die Präzision eines empathischen Klempners an den Tag. Nach neun Minuten, in „She belongs to me“, versenkt er sich in sein erstes Mundharmonikasolo. Nach einer Viertelstunde, während einer magisch torkelnden Barversion von „Beyond here lies nothin’“, präsentiert er zum ersten Mal dieses dunkel grollende Dylan-Kläffen, das in den vergangenen Jahren sein gesangliches Markenzeichen geworden ist, das er aber seit Neuestem schon wieder überwunden hat mit variationsreicher und rauer, aber zugleich leuchtend klarer Stimmführung. Ach ja, nach einer knappen Dreiviertelstunde, in einer dämonischen Rap-frisst-Schlager-Version seiner Rache-Ode „Pay in Blood“ verleiht der große Songwriter seinem Vergnügen zum ersten Mal durch entschlossenes Tänzeln Ausdruck.

Apokalyptische neue Zeilen

Kurz zuvor wirft der unsentimentale Neuerfinder seiner Lieder, der jahrzehntelang allabendlich komplett wechselnde Songprogramme präsentierte, seit Neuestem jedoch bei einer nahezu konstanten Setlist angekommen ist, sein Programm zur Verblüffung der Fans um: Auf dem Höhepunkt der Mindestlohn-Debatte in Deutschland singt Bob Dylan eines der wenigen explizit politischen Lieder, die er nach Beendigung seiner nur zwei Jahre währenden Protestsänger-Phase Anfang der Sechziger geschrieben hat: Im „Workingman’s Blues # 2“ aus dem Jahr 2006 faucht er: „Sie sagen, niedrige Löhne seien eine Gegebenheit, wenn wir im Ausland wetteifern wollen.“ Sie? Wer sind sie? Da ist wieder Dylans Arbeitsethos: „Manche Leute haben keinen einzigen Tag im Leben gearbeitet, sie wissen nicht einmal, was Arbeit bedeutet.“ Ansonsten mengt Dylan dem Lied ein paar apokalyptische neue Zeilen bei – ein Zeichen des Meisters?

Jedenfalls bringt er das Lied im mit 5000 Zuschauern ausverkauften Zelt innig beschwörend, beinahe in einer A-cappella-Version: Die Band beschränkt sich auf leise wimmerndes Gezirpe, während Dylans Stimme selbst Apokalypse spielt.

Überhaupt spielt diese famos sich ineinander verschlingende Band, die in den letzten Jahren zuweilen brachial gerockt hat, in München ein ganz zartes Blues-Country-Folk-und-Barjazz-Konzert. Die bebende Sanftheit unterstreicht aufs Anrührendste die Präsenz des altersweisen Bob Dylan im Sehermodus.

Versöhnung als Ernst zu nehmende Option

Und natürlich ist dieses Konzert alles andere als eine nostalgische Rückschau: Zwei Drittel der 19 Songs stammen aus dem neuen Jahrtausend, ein Drittel gar von Dylans aktuellem Album „Tempest“ aus dem Jahr 2012. Und wenn Dylan doch mal weit zurückblickt, wie in seiner ersten Zugabe, „All along the Watchtower“ von 1967, dann wirkt seine Darbietung ein bisschen so, als habe ein geniales Kind ein tausendteiliges Puzzle erst zerfetzt und innerhalb weniger Augenblicke wieder neu und anders zusammengesetzt: Dylan beraubt den Song seines legendären Gitarrenriffs und ersetzt ihn durch tumultartig verspielte Läufe am Flügel, hinter dem er sich immer dann verschanzt, wenn er eine Weile lang in der Bühnenmitte die Ovationen seiner Fans mit gewohnt ratlosem Gesichtsausdruck entgegengenommen hat. Er spricht ja inzwischen gar nicht mehr mit dem Publikum, kein „Thank you“ zwischen den Songs, keine Bandvorstellung. Dafür spricht er knapp zwei Stunden lang mehr denn je durch seine Lieder.

Ein besonders intensives Beispiel an diesem Abend ist dafür der Song „Love sick“, kurz vor der bei ihm erst im letzten Jahr eingeführten Pause in der Mitte des Konzerts: Da spuckt Dylan die Worte des Angewidertseins förmlich heraus, aber am Schluss des Stücks, als man fürchten muss, dass er sich gleich wirklich erbricht, flötet er plötzlich hauchzart: „Ich würde alles geben, um bei dir zu sein.“ Dylan präsentiert in München bei all seiner verbalen Schärfe doch stets die Möglichkeit der Versöhnung als eine ernst zu nehmende Option.

So gerät ihm „Forgetful Heart“ zu einer anrührenden Meditation, „Spirit on the Water“ wird zur zirzensischen Spelunkenschwärmerei, und in „Scarlet Town“ gestattet Dylan seinen Fans einen Blick in den gruseligen Abgrund. Besonders um klassische Schönheit bemüht er sich jedoch sehr erfolgreich in seinem Mittsiebziger-Juwel „Simple Twist of Fate“. Da lässt er seine Band vorauspreschen, holt sie ein, überholt sie und vereinigt sich schließlich ein paar kostbare Augenblicke verfallsbedrohter Schönheit lang mit dem Schwelgen der Pedal-Steel-Gitarre.

Das Schicksal meint es gut mit ihm

Womöglich zelebriert Bob Dylan ja gerade diesen Song derart innig, weil der kleine Mann aus Minnesota inzwischen nicht nur weiß, sondern auch spürt, dass es das Schicksal sehr gut mit ihm gemeint hat. Und natürlich auch mit uns, schon weil wir an diesem Abend dabei sein durften.

Konzerte
in Deutschland: Zwickau (3. Juli), Rostock (7. Juli) und Flensburg (8. Juli)