Unterwasserarchäologen können im Bodensee Pfahlbausiedlungen der Steinzeit inzwischen fast bis aufs Jahr genau datieren. In einem einst niedergebrannten Dorf finden sie Zeugnisse von Wohnungseinrichtungen und Handwerkskunst.

Stuttgart - Über das genaue Jahr sind sich die Archäologen noch nicht ganz einig: War es 3910 oder doch 3909 vor Christus, als die steinzeitliche Siedlung am Bodenseeufer bei Hornstaad abgebrannt ist? Sicher sind sich die Wissenschaftler dagegen, dass der Wind aus Osten kam – weil die Häuser am Ostrand nicht abgebrannt sind. Und dass der verheerende Brand im Spätsommer wütete: Die Ernte war bereits in den Häusern eingelagert.

 

In den vergangenen Jahrzehnten haben die Archäologen des Landesdenkmalamtes detailliert die Überreste dieser steinzeitlichen Siedlung untersucht, die auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Gaienhofen am Untersee liegt. Wie sie dabei vorgehen und was sie bisher gefunden haben, darüber hat kürzlich Helmut Schlichtherle im Rahmen der Vortragsreihe zur Bodenseeausstellung berichtet, die derzeit im Stuttgarter Naturkundemuseum stattfindet. Der Archäologe leitet in Gaienhofen das Fachgebiet Feuchtbodenarchäologie des Landesamts für Denkmalpflege und ist als Unterwasserarchäologe weit über den Bodenseeraum hinaus bekannt.

Jahresringe bestimmen das Alter sehr genau

In der Siedlung Hornstaad-Hörnle haben die Unterwasserforscher bisher genau 14 575 Pfähle lokalisiert und kartiert – wobei „damals nahezu alle Holzarten verbaut wurden“, wie Schlichtherle berichtet. Beeindruckend ist, wie dicht nebeneinander die Pfähle zum Teil eingeschlagen wurden: Im Siedlungszentrum wurden bis zu 15 Pfähle pro Quadratmeter gefunden. Früher wäre es kaum möglich gewesen, diese Fülle an Pfählen richtig zu deuten und einzuordnen. Da hätte man bei einer solchen Dichte angenommen, dass darauf zum Beispiel eine Plattform errichtet worden war.

Seit Mitte der 1980er Jahre wurde jedoch mit der sogenannten Dendrochronologie eine Methode entwickelt, mit Hilfe der Jahresringe das Alter von Holzpfählen genau zu bestimmen. Und so wissen die Archäologen nun, in welchem Jahr die einzelnen Stämme geschlagen und als Pfähle in den Grund des Bodensee – oder auch der oberschwäbischen Seen – eingerammt wurden. Damit wird es auch möglich, zeitliche Abfolgen in der Besiedelung zu erkennen: Viele in unterschiedlichen Jahren eingerammte Pfähle an einer Stelle zeigen an, dass hier im Laufe der Zeit mehrere Siedlungen entstanden sind.

In der Hornstaader Siedlung, einem der am längsten und besten untersuchten Pfahlbaustandorte am Bodensee, wurden eine ganze Reihe von Besiedelungsepochen und Arealen mit Pfahlbauten gefunden. Der älteste Pfahl – ein Einzelfund – datiert auf das Jahr 3919 vor Christus. Vier Jahre später wurde dann eine rege Siedlungstätigkeit festgestellt, bald waren im Zentrum praktisch alle Bauplätze belegt. Als die Siedlung einige Jahre später abbrannte, war dies für die Bewohner zwar ein großes Unglück, für die Forscher aber ist es ein seltener Glücksfall – wurden doch in den Brandschichten viele gut erhaltene Haushalts- und Gebrauchsgegenstände aus der damaligen Zeit konserviert. Und sie erlauben den Archäologen nun beeindruckende Einblicke in das Leben unserer Vorfahren, die Schlichtherle an verschiedenen Beispielen spannend erläutert.

Die Menschen hatten einen gewissen Wohlstand

So ist die Größe eines Hauses – die Grundfläche reichte von 15 bis 40 Quadratmetern – ein guter Hinweise auf den unterschiedlichen sozialen Status der Bewohner. Die Menschen lebten damals keineswegs am Rande des Existenzminimums, wie die eingelagerten Vorräte zeigen: In einigen Häusern wurden nicht weniger als 275 Kilo Getreide gefunden. Zudem gab es reichlich Gefäße aller Art – bis zu 29 Stück wurden in einem Haus gefunden, im Durchschnitt waren es zehn. Dazu zählt auch ein verziertes krugartiges Gefäß mit einem Henkel, das wohl aus dem oberschwäbischen Raum bei Bad Schussenried stammte.

Schmuck und andere Prestigeobjekte weisen ebenfalls darauf hin, dass es zumindest manchen Steinzeitfamilien ganz gut gegangen sein muss. Dazu zählt auch eine bierdeckelgroße Scheibe aus Kupfer – „einer der ältesten Metallfunde nördlich der Alpen“, wie Schlichtherle nicht ohne Stolz anmerkt. Feuersteine aus Oberitalien und Nordeuropa, Ketten mit Mittelmeermuscheln und andere Funde aus fernen Regionen belegen einen regen Warenhandel. Im Brandschutt eines Hauses wurden zudem viele Kerne der Kornelkirsche gefunden. Diese Kirschen stammten damals aus dem Raum südlich der Alpen und dienten getrocknet als Proviant bei der mühsamen Überquerung der Alpen. Die in diesem Haus lebende Familie war offenbar auf transalpine Kontakte spezialisiert.

Im Brandschutt der einzelnen Häuser finden sich zudem Zeugnisse der damalige Tätigkeit der Bewohner. So lassen sich regelrechte Quartiere lokalisieren, in denen zum Beispiel Perlenketten hergestellt wurden. Dabei wurde die Arbeit geteilt: In manchen Häusern wurden die Perlen geschliffen, in zwei anderen wurden sie durchbohrt – worauf die dort gefundenen rund 11 000 Bohrspitzen hindeuten.

Viele Fundorte sind bedroht

Auch an vielen anderen Stellen am Seeufer haben die Archäologen die Überreste von Siedlungen lokalisiert, die bis in die Steinzeit reichen. Besonders umfassend waren die Menschen in der Bucht vor Sipplingen aktiv: Dort wurden 15 Siedlungsareale eingegrenzt. Mitten in diesem archäologisch höchst wertvollen Gebiet wurde in den 1970er Jahren rücksichtslos ein Jachthafen gebaut – was dank des heutigen Denkmalschutzgesetzes nicht mehr möglich wäre, wie Schlichtherle anmerkt.

Gleichwohl sind viele Fundorte auch heute noch mehr oder weniger stark bedroht. Am Bodensee ist weggeschwemmtes Ufer die wohl größte Gefahr, weil dabei die steinzeitlichen Kulturschichten samt den eingerammten Pfählen zerstört werden. Eine wichtige Ursache für die verstärkte Ufererosion sind die Wellen von Fahrgastschiffen und hier vor allem auch des schnellen Bodenseekatamarans, wie Schlichtherle berichtet. Aber das Landesdenkmalamt ist wachsam: „Erste Maßnahmen zum Erosionsschutz sind durchgeführt, ein Monitoring ist eingerichtet. Beim Fahrgastverkehr müssen wir zum Schutz der bedrohten Kulturschichten in den nächsten Jahren besonders wachsam sein“.

Weltkulturerbe Pfahlbauten

Kulturgut
Am 27. Juni 2011 hat die Unesco 111 Fundstellen mit Überresten prähistorischer Pfahlbausiedlungen zum Weltkulturerbe erklärt. Neun davon liegen am Bodensee, fünf in oberschwäbischen Feuchtgebieten. Ein Weltkultur-Pfahlbau liegt nördlich von Ulm. In Unteruhldingen und Bad Buchau vermittelten Museen mit Nachbauten einen Eindruck vom Leben unserer steinzeitlichen Vorfahren. Die große Landesausstellung „4000 Jahre Pfahlbauten“ zeigt 2016 neue Funde und Ergebnisse.

Überwachung
Fachlich wacht in Baden-Württemberg das am Regierungspräsidium Stuttgart angesiedelte Landesamt für Denkmalpflege über die Siedlungsreste.