An diesem Freitag feiert der Autor Bodo Kirchhoff seinen siebzigsten Geburtstag. In seinem mutigen Erinnerungsbuch „Dämmer und Aufruhr“ erzählt er von den sexuellen Turbulenzen, denen er sein Schreiben abgerungen hat.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Cabriofahrer kommen auch vor, Italien und Rotwein. Doch wer nun gähnt, und dies für die erwartbaren Marotten eines in die Jahre gekommenen Lebemannes hält, erlebt hier ein jähes Erwachen. Denn „Dämmer und Aufruhr“, das Buch, in dem Bodo Kirchhoff durch seine frühen Jahre kurvt, und noch einmal den Weg zurücklegt, der ihn einst zur Literatur geführt hat, raubt dem Leser im besten Fall nur den Atem, im wahrscheinlicheren aber die Unschuld gleich mit. Zumindest wenn man unter Unschuld die selbstgefällige Rechtgläubigkeit versteht, mit der man auf die Begierden, Lüste und Leidenschaften anderer Leute blickt, ohne sie zu teilen. Hier hängt man mitten drin. Was Kirchhoff erzählt, ist die Genese der Sprache aus dem Körper der Mutter, der Literatur aus den Abgründen der Liebe. Wer jene schätzt, hat auch an diesen Anteil, und ist damit schon zum Komplizen der intimen Abenteuer, Verbrechen und Geheimnisse geworden, die hier ins Licht der Wahrhaftigkeit gerückt werden.

 

Fraglich allerdings, ob es dieses Licht ist, das gegenwärtig die Aufmerksamkeit auf den Roman lenkt. Und nicht vielmehr ein Skandalisierungsreflex, der sich auf etwas richtet, was eigentlich schon längst bekannt sein müsste. Bereits 1994 hat Bodo Kirchhoff in seiner Frankfurter Poetikvorlesung darüber gesprochen, dass er als Kind im Internat in Gaienhofen am Bodensee missbraucht worden war, nachzulesen in dem Band „Legenden um den eigenen Körper“.

Annäherung im Schein einer phallischen Adventskerze

In „Dämmer und Aufruhr“ begegnet man jenem Cabriofahrer wieder, der wie Winnetou aussieht, zuständig für Musik, Religion, Sport und Duschen. Er nimmt den aus dem Nest seiner Familie vertriebenen Internats-Novizen unter seine Fittiche. Mit „nadu Schöner“, macht er ihn sich gewogen. Zur Musik von Heinrich Schütz („Ich bin die Qual deiner Schmerzen“) zieht er ihm am Gummi der Schlafanzughose, der Beschützer wird zum Liebhaber, lehrt den verschreckten Knaben erst singen, dann andere orale Künste. Der „Erwählte“ weiß nicht, wie ihm geschieht. Bis sich irgendwann herausstellt, dass er nur einer von vielen ist. Katastrophe.

Vor einigen Wochen hat der Schriftsteller Christian Kracht am selben Ort wie Kirchhoff, nur 24 Jahre später den schmerzlichen Erkenntnisprozess öffentlich gemacht, wie ein Zufallsfund ihn darauf brachte, ebenfalls als Internatszögling Opfer eines perversen Pastors geworden zu sein. Und mit einem Mal wurden auf bestürzende Weise die Male lesbar, die davon in seinem Werk zurückblieben, moralische Kälteeinbrüche und untergründige Sympathien mit dem Bösen.

Vor diesem Hintergrund, in den die investigative Aufgewühltheit der Metoo-Debatte gehört, wird Kirchhoffs neues Buch als weitere Dokumentation eines strukturellen gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses gewertet, als läge dessen Qualität darin, mit literarischen Mitteln einen außerliterarischen Sachverhalt zu enthüllen. Und doch wiederholt sich in dieser Lesart geradezu an dem Buch der Missbrauch, von dem es berichtet. Denn der Blick geht gerade in die andere Richtung. Kirchhoff zeigt, welchen ungeheuren Erfahrungen sich die Sprache der Liebe verdankt, und dass sich nur in ihr jene Details aussprechen lassen, in denen eine Intensität des Lebens Gestalt gewinnt, die außerhalb der Literatur sofort an Sitte und Gesetz verfiele. Über die erste Annährung des Kantors im Schein einer phallischen Adventskerze heißt es: „Kaum ein anderer, späterer Kuss ist mir so im Gedächtnis geblieben, eingestanzt in die Lippen, das Zahnfleisch, die Zunge, den Gaumen. Was da geschah, geschah jenseits von allem Bekannten und aller Worte, so bestürzend wie betörend.“

Die Geburt des Autors ist zugleich ein Requiem für die Mutter

Der Roman der frühen Jahre ist ein Erinnerungsbuch, eine Recherche am eigenen Leib. Um seine Vergangenheit wiederzufinden, reist der Erzähler an den Ort, an dem seine Eltern, bevor sich ihre Wege trennten, ein letztes Mal zusammen glücklich waren. Er mietet sich in dem ligurischen Hafenort Alassio in dem Zimmer ein, das sie damals bewohnten. Und betrachtet alte Fotos. Der Roman entwickelt sich als eine Folge von Bildbeschreibungen, in denen arrangierte psychoanalytische Urszenen mit realen Erinnerungen übermalt oder überschrieben werden.

Ein träges Sommerintermezzo des knapp Vierjährigen am Moorsee, der Vater fern, im Hintergrund der Wilde Kaiser, im Vordergrund der mütterliche Leib, nackt vor sich hin dösend: „Er folgt der Trägheit seiner Augen und kann etwas vom Geheimen sehen, wo die Schenkel sich treffen, von den Fältchen dort, dem dunklen Gras der Haare, den Mulden und den Kräuselungen.“ Mit einem Bleistift setzt er seine Erkundungen fort, von der Schläfrigen geduldet, vielleicht auch mehr, bis sich der Stift noch vor jedem Wissen um die Schrift in etwas senkt, was dem Buchstaben O entspricht.

Der Geburt des Dichters entgegen läuft das Altern und Sterben der Mutter, die ihrerseits als Bestseller-Autorin Romane schrieb, die zu kompensieren hatten, was in dem nun vom Sohn entfalteten Leben offen blieb. Dazu gehören Nachkriegsdunkel, die gescheiterte Ehe mit Kirchhoffs Vater, mancher schmerzliche Verlust und sicher auch die Peinlichkeit, dass der erste literarische Erfolg des Sohnes vom „Spiegel“ angewidert als „Welt aus Kot und Ekel“ vermerkt wird. Vielleicht ist das in der Tat die anstößigste Passage dieses Romans, anstößiger als die erotischen Irrungen und Wirrungen, wo Kirchhoff beschreibt, wie er den Stoff für seine erste Novelle einem toten Nachbarn verdankt, der in der Frankfurter Dachgeschosswelt, in die es beide verschlagen hat, vor sich hinwest.

Diesem Stadium, das ihm zwar die Tore des Suhrkamp Verlags geöffnet hat, um den Preis, als berechnender Pornoschriftsteller und Verruchtheitsvirtuose zu gelten, ist Kirchhoff, der an diesem Freitag seinen siebzigsten Geburtstag feiert, längst entwachsen. Die Faszination der Auflösung des Menschlichen, das Verfallensein ans Fleischliche, die astronautenhafte Einsamkeit sind in einem Schreiben aufgehoben, dessen Reife dem Körper und seinem Streben Gerechtigkeit zuteil werden lässt.

Aus den frühen Erkundungen der Matrix der Sprache ist eine Ausdruckskraft geworden, die seiner Mutter schließlich auf bewegende Weise das letzte Geleit gibt. Im Spiel der Zeichen und Wörter verschränken sich beider Geschichten ineinander, innig, behutsam und nie wieder voneinander zu trennen.