Sokoleiter Peter Kegreiß hat sich das Leben genommen. Er hat immer darunter gelitten, den Mord an Tobias nicht aufgeklärt zu haben.


 

Böblingen - Die Tragödie findet auf dem Böblinger Waldfriedhof ihre Fortsetzung. Hunderte von Kollegen geben Peter Kegreiß das letzte Geleit, der Sarg neben dem Altar versinkt in einem Meer von Blumen und Blütenblättern. Eine der Schleifen an den vielen Kränzen trägt die Aufschrift: "Für mich lebst Du weiter." Margund Ruoß, die Pfarrerin der Böblinger Christusgemeinde, versucht, Trost zu spenden, zitiert aus dem Römerbrief und aus Jesaja.

 


"Eure Gedanken sind nicht meine Gedanken, meine Wege sind nicht Eure Wege." Peter Kegreiß sei ein Mensch gewesen, der auf andere zugegangen sei, sagt die Geistliche. Er habe es auf seine Art getan - "I did it my way". Das Lied von Frank Sinatra lässt die Gesichter der Abschiednehmenden noch trauriger werden. Umgebracht habe sich Kegreiß aus Verzweiflung, wie die Pfarrerin meint.

Peter Kegreiß' letzter Chef, der Leiter der Böblinger Bereitschaftspolizei Ernst Horlacher, sagt, der Verstorbene habe den Menschen "stets so viel Mitleid entgegengebracht". Er habe nicht loslassen können, auch nicht nach dem Dienst. Man habe gehofft, dass es mit der neuen Tätigkeit bei der Bereitschaftspolizei besser werde, wohin sich der ehemalige Hauptkommissar Kegreiß schließlich versetzen ließ.

Aber offenbar sind die Wunden nicht verheilt, die ihm seine Arbeit gerissen hatte. Seine ungelösten Fälle, besonders der unaufgeklärte Mord am 30. Oktober 2000 an dem elfjährigen Tobias, verfolgten ihn immer und überallhin.

Der Fall Tobias bringt ihn an seine Grenzen

Peter Kegreiß war ein Zweifler. Beileibe kein Supermann, der mit breiter Brust zum Tatort schritt und sofort erkannte, wer der Täter war. Der vollbärtige Holzgerlinger liebte Henning Mankell und dessen Helden Wallander, der sich stets dagegen gewehrt hat, ein solcher zu sein. Die Romanfigur, die er sich zu eigen gemacht hat, lebt immer in der Angst, dem Elend, dem Wegbegleiter seiner Arbeit, nicht gewachsen zu sein. Darüber konnte Kegreiß in seiner bedächtigen Art lange erzählen. Der schwedische Kommissar, sagte der richtige zuletzt, "ist ein Mensch mit allen Stärken und Schwächen".

Der 46-Jährige war, so klischeehaft das klingt, Polizist mit Leib und Seele. Vor dreißig Jahren hat er die grüne Uniform angezogen, weil sie ihm als Garant dafür galt, Freund und Helfer sein zu können. Vorher hatte der Metzgerssohn schulterlange Haare getragen und ein Peace-Zeichen. Dieser Mensch wurde zum Leiter der Soko Weiher, die den furchtbaren Mord an dem kleinen Tobias aufklären sollte. An einem Jungen, der so alt war wie sein eigener.

Über Jahre hinweg haben Kegreiß und zeitweise 50 Beamte an diesem Fall gearbeitet, haben Tage und Nächte damit zugebracht, tausenden von Spuren nachzugehen und den weltweit zweitgrößten Speicheltest mit 13.000 Proben auszuwerten. Und sie haben einen Tatverdächtigen gehabt, von dem der Kommissar immer überzeugt war, dass er der Täter war. Einen 16-jährigen Jungen aus dem Ort, der die Leiche genau beschreiben konnte, aber einen Intelligenzquotienten von unter 60 hat. Doch Kegreiß, der nahe am Verzweifeln war, hatte keinen "objektiven Beweis" gegen ihn.

Der interne und externe Druck war groß

Er hat damals gesagt, dass er nicht ausschließen könne, Fehler gemacht zu haben, allerdings keine gravierenden. Immer wieder hat er über das Motiv gerätselt. "Ständig fragst du nach dem Warum", erzählte der Vater zweier Kinder in jener Zeit, "und du bekommst keine Antwort". Doch die Menschen um ihn wollten Antworten.

Die Bürger am Ort, die ihre Kinder nicht mehr unbeaufsichtigt vor die Tür ließen. Der Innenminister und der Polizeipräsident, die den riesigen Aufwand legitimiert sehen wollten. Und die Öffentlichkeit, die den ruchlosen Täter gefangen und bestraft wissen wollte. Von Tag zu Tag wuchs der Druck auf Kegreiß, bis hin zur Bildzeitung, die mit der Schlagzeile kam: "Rollen jetzt Köpfe?"

Der sensible Sokoleiter hat versucht, dem internen wie externen Druck mit noch mehr Engagement zu begegnen. Jede noch so kleine, noch so weit hergeholte Spur musste verfolgt werden, und fast alles glaubte er, in dieser Zeit mit sich ganz alleine ausmachen zu müssen.

Als "Kommissar Fangnix" beschimpft

Zu Hause schwieg er über seine Arbeit und seine Ängste, weil er seine Familie damit nicht behelligen wollte. Kein Wort verlor er auch über die Schmähungen an den Schönbucher Stammtischen, die über den "Kommissar Fangnix" herzogen oder ihm, wenn sie dachten, nett zu sein, den "Kommissar Zufall" als Partner wünschten.

Kegreiß hat in der Zeit versucht, Ruhe in der Stuttgarter Staatsgalerie zu finden, beim Betrachten der "Blauen Pferde" von Franz Marc. Oder vor dem Herrenberger Altar des Malers Jerg Ratgeb. Aber er hat weder Ruhe noch Frieden gefunden - nur noch den Ausstieg. Aus dem Sokochef wurde ein Lehrer bei der Bereitschaftspolizei (Bepo) in Böblingen.

Ob es die Resignation war, die Aufgabe eines Gescheiterten, oder der Druck von Vorgesetzten, die unzufrieden waren, oder beides - das wird letztlich nicht mehr zu klären sein. Normalerweise jedenfalls, so wird in Polizeikreisen erklärt, wird kein Sokoleiter Ausbilder bei der Bepo.

Wie immer es war, die Hüter des Gesetzes müssen sich jetzt fragen, ob sie mit ihrem Kommissar fürsorglich umgegangen sind? Ob es richtig ist, dass man seine Klagen, von seinen Vorgesetzten im Regen stehen gelassen worden zu sein, nicht gehört hat? In seinem Abschiedsbrief hat Peter Kegreiß, so heißt es bei der Polizei, direkt darauf Bezug genommen.