Der Mann, der zwei Polizisten schwer verletzt hat, ist wegen einer Geisteskrankheit schuldunfähig.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Böblingen - Der Mann stach im Wahn zu. Es war keine Wut, Tobsucht oder ein von Alkohol ausgelöster Ausraster. Sein Gehirn konnte in der Nacht des 4. Juli nicht einmal erkennen, dass es ein Straftat ist, einer Polizistin eine 15 Zentimeter lange Messerklinge in den Hals zu rammen. So lautet das Urteil des Landgerichts Stuttgart. Medizinisch leidet der 25-Jährige an einer paranoiden Schizophrenie. Wegen seiner Krankheit kann er zu keiner Haftstrafe verurteilt werden. „Der Staat sperrt jemanden wie Sie nicht einfach weg“, sagte der Vorsitzende Richter Norbert Winkelmann zum Angeklagten. Stattdessen wird der 25-Jährige zwangsweise in einer psychiatrischen Klinik therapiert. Dort ist er bereits untergebracht.

 

Einen Hinweis auf die Unvorstellbarkeit des Geschehens jener Nacht gibt das Gedächtnis eines jungen Polizisten, den der Messerstecher am Kopf und an der Hand verletzt hatte. Der Angriff auf ihn und seine Kollegin ist aus seiner Erinnerung getilgt. Die Polizisten waren wegen Ruhestörung an die Bunsenstraße in Böblingen gerufen worden. Kaum waren sie eingetreten, griff der 25-Jährige an. Er stach die damals 27-Jährige Polizistin in den Hals, ins Gesicht, in den Kopf – so unvermittelt, dass sie nicht einmal das Messer sah, bis der Angreifer ihren Kollegen attackierte. Sie schoss, als der 25-Jährige wieder auf sie einstach. Die Projektile drangen in die Lunge, die Leber, zerschmetterten die Knochen eines Oberschenkels und eines Unterarms. Nach dem achten Treffer brach der Angreifer zusammen. Einmal traf die Polizistin sich im Gemenge selbst, ins Knie. Drei Schüsse ihres Kollegen trafen ebenfalls sie, abgefeuert von außen, durch die zugefallene Waffelglastür. Am Ende setzte die 27-Jährige noch Notrufe ab und erklärte die Lage. „Sie ist eine Heldin“, sagte ihr Rechtsanwalt.

Bizarre Vorstellungen und Verfolgungsangst

Hinweise darauf, dass der 25-Jährige dringend behandelt werden müsste, gab es schon früh. Ende 2016 verbrachte er zweieinhalb Wochen in der Therapie. Er war im Wald aufgegriffen worden, wo er ein Grube aushob. Er wähnte, sich vor verwilderten Kannibalen schützen zu müssen. Die Mediziner glaubten damals an eine Psychose, die Cannabis ausgelöst hatte, empfahlen ungeachtet dessen eine dauerhafte Therapie. Der 25-Jährige lehnte ab, auch gegen alle Bitten seiner Familie. Seine Mutter nimmt wegen Schizophrenie Psychopharmaka ein. Ein Onkel hatte sich erhängt.

Der 25-Jährige litt zunehmend unter „bizarren Vorstellungen und Verfolgungsangst“, wie der Gerichtspsychiater Jürgen Eckardt sagte. Er glaubte, dass ihn Geheimdienste fremder Mächte verfolgen, auch, dass Außerirdische ihn für Experimente entführen wollten. Er war sich gewiss, dass Mörder auf ihn angesetzt waren. Er kaufte sich schusssichere Westen, Militärhelme, eine Armbrust und eben jenes Messer der Marke Smith and Wesson. Der Alkohol steigerte an jenem Abend den Wahn, womöglich sei er sogar Auslöser der Tat gewesen, meint der Psychiater. Der 25-Jährige war überzeugt, die Polizisten seien Abgesandte dunkler Mächte. Exakt ließ sich der Grad der Trunkenheit nicht mehr bestimmen, aber bis zu drei Promille könnte der Angreifer im Blut gehabt haben. Er ist seit Jahren Gewohnheitstrinker und Gelegenheitskiffer.

„Es liegt Gemeingefährlichkeit vor“

In der geschlossenen Psychiatrie habe sich der Zustand des 25-Jährigen deutlich gebessert, urteilte Eckardt. Ob die Therapie letztlich Heilung verspreche, sei derzeit aber nicht zu beurteilen. Weitere Bluttaten seien zumindest nicht auszuschließen. „Es liegt Gemeingefährlichkeit vor“, sagte der Gutachter. So stand es bereits in der Anklageschrift.

Die beiden Verteidiger des Angeklagten hatten darauf plädiert, dass ihr Mandant zwar stationär, aber freiwillig oder auf Bewährung therapiert werden könne. Die Richter lehnten dieses Ansinnen rundweg ab, allein schon, „weil es keine Pille gegen Alkohol- und Cannabisabhängigkeit gibt“, wie Winkelmann sagte, überdies „würden wir Sie Ihrer Familie aufs Auge drücken“. Eine Bewährung sei später eventuell möglich, derzeit allerdings keine Option. Sollte die Krankheit des 25-Jährigen irgendwann gänzlich geheilt werden, kommt er ohnehin wieder frei.