Nein, nicht der Heilige Abend oder sein eigener Geburtstag ist für den Böblinger Wolfgang Kimmig der höchste Tag im Jahr. Stattdessen läuft er am Nikolaustag zur Hochform auf. Schließlich gedenkt das christliche Abendland an diesem Tag seinem Alter Ego: dem heiligen Nikolaus, Bischof von Myra, der an einem 6. Dezember gestorben sein soll. Wenn Millionen Kinder an diesem Tag in aller Frühe ihre (hoffentlich prall gefüllten) Stiefel wieder von der Türschwelle holen, ist Kimmig noch lange auf den Beinen.
Extrem viele Anfragen
Allerdings nicht in Böblingen, sondern in Brauweiler. In dem Vorort von Köln wirkt der 67-Jährige in der Abteikirche St. Nikolaus um 9 Uhr an der Messe mit, zu der auch viele Kinder kommen werden. Danach geht es im selben Ort in ein Behindertenheim, wo Kimmig wie so oft das tut, was er am besten kann: Trost spenden, aufmuntern, die Menschen berühren. Den Rest des Tages steht er auf dem Heinzelmännchen-Weihnachtsmarkt in Köln – wie man ihn kennt, in vollem Ornat mit rotem Bischofsgewand, weißen Bart und goldener Mitra.
„Dieses Jahr haben mich insgesamt 720 Einladungen von den verschiedensten Einrichtungen erreicht: Kindergärten, Hospize, Altenheime“, sagt Kimmig, der vor der Hochzeit mit seiner zweiten Frau den markanten Doppelnamen Kimmig-Liebe trug. „Doch annehmen konnte ich nur 34, leider.“ Sein Terminkalender platzt im November und Dezember wie immer aus allen Nähten. Auch in seiner Heimatstadt Böblingen war er wieder unterwegs: Auf dem Weihnachtsmarkt und in Kindergärten. Sogar nach Israel reiste er in diesem Jahr: Am 3. Dezember war er Teil einer Zeremonie des Völker verbindenden Projekts „Tent of Nations“ in der Nähe von Bethlehem.
Von Papst Benedikt XVI. gesegnet
Die Menschen verbinden, unabhängig von Religion und Herkunft, das ist eine weitere Mission von Wolfgang Kimmig. „Ich will den Menschen helfen wie der echte Nikolaus“, sagt er, der sich von Papst Benedikt XVI. segnen und als offiziellen Nachfolger des „echten“ Nikolaus anerkennen ließ. So stark sein historisches Vorbild im christlichen Glauben verankert ist, so sehr spürt ihm Wolfgang Kimmig in der Türkei nach. Die ist zwar überwiegend islamisch geprägt, was ihn aber nicht davon abhält, regelmäßig den Wirkungsort des Bischof von Myra an der türkischen Riviera zu besuchen.
Der Ort liegt auf dem Gebiet des Ortes Demre, ungefähr 100 Kilometer vom Urlaubsort Antalya entfernt. Dort steht die bekannte Nikolauskirche, in der sein historisches Vorbild einst seinen Bischofssitz hatte und auch begraben lag. Denn als die Stadt Myra von seldschukischen Truppen im Jahr 1087 n. Chr. angegriffen und evakuiert worden war, raubten süditalienische Kaufleute diese Kirche aus. Aus einem Sarkophag wurden die Gebeine des heiligen St. Nikolaus entnommen und ins italienische Bari gebracht. Dort liegen sie noch heute, in der Krypta der Wallfahrtskirche San Nicolai. Ein Umstand, mit dem weder Wolfgang Kimmig noch die türkischen Nikolaus-Stiftung einverstanden sind.
Stimmt die Geschichte?
„Die Türkei fordert seit Jahren die Rückgabe der Reliquien“, sagt Kimmig. Bisher erfolglos. Trotzdem zieht es den Böblinger immer wieder dorthin. Man könnte fast sagen, die Nikolauskirche in Demre ist zu seiner zweiten Heimat geworden. In diesem Jahr hat er dort eine faszinierende Entdeckung gemacht: Der Kirchenboden war für Grabungen aufgerissen, mitten im Kirchenschiff klaffte ein 15 Meter langes und drei Meter breites Loch, notdürftig abgedeckt mit einer Plane. Seit den 1990er Jahren finden rund um die Nikolauskirche immer wieder Grabungen statt. Türkische Historiker behaupten, die originale Nikolauskirche sei bei einem Erdbeben 529 n. Chr. eingestürzt und die heutige Kirche danach auf diesen Trümmern errichtet worden. Die Barianer könnten im Jahr 1087 also die falschen Gebeine geraubt haben. Die Überreste des echten Nikolaus befänden sich in den Trümmern darunter, wird behauptet. Für Kimmig wäre dies ein unvorstellbares Glück.
Aus Sicht von Historikern sicher eine steile These, wurden die Gebeine in Bari doch intensiv forensisch untersucht und deren Alter bestimmt. Dennoch: Sollte die These stimmen, müsste dieser Teil der Geschichte gänzlich neu geschrieben werden. Wolfgang Kimmig ist sich trotzdem ziemlich sicher, was sein großes Vorbild anbelangt, spürt eine metaphysische Verbindung: „Als ich in der Kirche gestanden bin, bekam ich auf einmal Gänsehaut und mir haben sich die Haare aufgestellt. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein.“ Offiziell anerkannt ist diese Theorie freilich nicht. Zumal das Archäologische Museum in Antalya einige Knochen des heiligen St. Nikolaus ausstellt – die Grabräuber von einst sollen sie verloren haben.
Empfang beim Bürgermeister
Wie dem auch sei, Myra beziehungsweise Demre könnte tatsächlich die zweite Heimat von Nikolaus Wolfgang Kimmig werden. „So könnte ich mir meinen Lebensabend vorstellen: Sechs Monate im Jahr als Nikolaus dort auftreten für ein paar Stunden am Tag“, sagt er. Doch bisher scheuen sich die Behörden. „Es muss ins Bild passen“, sagt Kimmig.
Immerhin: Der Tourismus in Demre sei derzeit im Aufschwung, es würden viele Hotels und Straßen gebaut. Außerdem sucht Kimmig immer wieder den Kontakt zum örtlichen Bürgermeister. Der Empfang sei immer sehr herzlich gewesen, sagt er.
Nikolaus von Myra
Historische Person
Über das Leben des historischen Nikolaus sind nur wenige Tatsachen belegt. Als gesichert gilt, dass er zwischen 270 und 286 n. Chr. in Patara geboren wurde, einer Stadt in Lykien (heutige Türkei). Er verstarb am 6. Dezember, das Jahr ist unbekannt.
Einlegebrauch
Das nächtliche Füllen der Schuhe oder Ähnliches, basiert auf der Legende von den drei Jungfrauen, die nachts vom heiligen Nikolaus beschenkt wurden.