Die Fusion der Deutschen Börse mit der London Stock Exchange ist auch eine Reaktion auf den wachsenden Druck, unter dem der etablierte Aktienhandel steht. Newcomer machen sich immer breiter.

Time is money. Diesen Satz soll angeblich schon 1748 der amerikanische Erfinder und Staatsmann Benjamin Franklin gesagt haben. Doch er gilt noch heute, und das sogar immer mehr. Während Benjamin Franklin und seine Zeitgenossen sich noch im gemütlichen Gespräch mit ihrem Bankier darüber unterhalten haben, wie sie ihr Geld anlegen konnten, können selbst professionelle Anleger heute kaum noch nachdenken. Im Hochfrequenzhandel liefern sich Händler einen Wettlauf um neue Geschwindigkeitsrekorde: Mit der heute üblichen Hightech-Ausrüstung können Dienstleister mehr als 100 000 Transaktionen pro Sekunde und Kunde abwickeln. Seit dem vergangenen Jahr ist die Kommunikation zwischen den Finanzzentren von London und New York um weitere 2,6 Millisekunden (rund zehn Prozent) beschleunigt worden. Mit dem Fortschritt der Technik existieren für die Händler bald nur noch die Grenzen der Physik – und deren letzte Barriere, die Lichtgeschwindigkeit. Es ist daher nicht überraschend, dass nach der Finanzkrise von 2007/2008 immer mehr Experten und Politiker eine Einschränkung dieses extrem schnellen Handels fordern.

 

Die Finanzwerte übertriffen die Wirtschaftsleistung

In Millisekunden werden Billionen von Euro rund um die Welt bewegt. Kein Wunder, dass da oftmals Computersysteme die Steuerung übernehmen müssen, das menschliche Gehirn wäre damit überfordert, in so kurzer Zeit wichtige Entscheidungen treffen zu können. Insgesamt umfasst der weltweite Finanzmarkt die Summe von 294 Billionen Dollar. Um eine Vorstellung davon zu haben, wie groß dieses Volumen ist, lohnt ein Vergleich mit dem globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das liegt bei knapp 76 Billionen US-Dollar. Damit ist der Markt der globalen Finanzwerte also fast viermal so groß wie die Wirtschaftsleistung, die rund um die Welt erbracht wird.

Der Aktienmarkt umfasst dabei rund 69 Billionen Dollar, das sind gut 23,5 Prozent. Der Rest besteht aus festverzinslichen Wertpapieren aller Art. Die ausstehenden öffentlichen Schulden, in Form von am Kapitalmarkt begebenen Staatsanleihen, sowie die Anleihen, die Kreditinstitute ausgegeben haben, kommen zusammen auf rund 120 Billionen Dollar – doch die werfen in der Zeit der Null-Zins-Politik der Notenbanken keine Rendite mehr ab. Hinzu kommen Anleihen von Unternehmen außerhalb des Finanzsektors. Diese haben ein ausstehendes Volumen von rund 31 Billionen Dollar oder 10,5 Prozent, die für Anleger wiederum interessant sind, weil sie in der Regel mehr Zinsen versprechen als die Staatspapiere.

Die Hälfte der Geschäfte geht an den Börsen vorbei

Der Handel mit diesen riesigen Summen hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Während noch in den neunziger Jahren der überwiegende Teil etwa des Aktienhandels ausschließlich über die etablierten und weitgehend regulierten Börsenplätze abgewickelt wurde, haben sich inzwischen immer mehr „Nebenbörsen“ entwickelt. Experten schätzen, dass rund die Hälfte aller Wertpapiergeschäfte heute außerhalb der Börsen stattfindet. Dies ist wohl auch einer der Hauptgründe dafür, dass die Welt der traditionellen Börsen weltweit seit Jahren auf Konsolidierungskurs ist.

Den neuesten Anlauf startete vor gut einer Woche der Chef der Deutschen Börse, der ehemalige Investmentbanker Carsten Kengeter. In Finanzkreisen wird erzählt, dass Kengeter ganz bewusst zum neuen Börsenchef auswählt wurde, weil er ohnehin schon seinen Lebensmittelpunkt in London hat und daher global denke. Doch nicht nur Kengeter, sondern auch seinen Kollegen aus London wird klar geworden sein, dass auf der Weltbühne der Börsen nur eine größere Einheit eine führende Rolle spielen kann. Für die Deutsche Börse ist die Entwicklung in mancherlei Weise bitter, denn sie hat mehr als einmal in den letzten fünfzehn Jahren versucht, strategische Übernahmen aus einer Position der Stärke zu realisieren. Zu denken ist dabei an den vergeblichen Versuch, die Londoner Derivatebörse zu übernehmen. Außerdem waren die Bemühungen der Deutschen Börse klug, dem Derivatehandel in Chicago vor Ort Wettbewerb liefern zu wollen, wenngleich die amerikanischen Banken diesen Plan entgegen ihrer vormaligen Unterstützungszusagen schließlich torpediert haben. Ebenso wirtschaftlich sinnvoll war das Unterfangen, die New York Stock Exchange zu kaufen, wiewohl man damit in ein Wespennest stieß und letztlich am Widerstand der EU-Kommission in Brüssel gescheitert ist.

Die Deutsche Börse AG hat sich prächtig entwickelt

Letztlich konnten all diese richtigen Initiativen nicht zum Erfolg gebracht werden. Dafür waren nicht zuletzt politische Gründe ausschlaggebend, denn Börsen werden selbst noch in diesem Jahrhundert zum Teil als nationale heilige Kühe angesehen. Auch diesmal wird man beobachten müssen, ob nicht Wettbewerber versuchen werden, den Plan der Deutschen Börse zu durchkreuzen. Hinzu kommt noch, dass die große Mehrheit der Deutsche-Börse-Aktien, wie bei den meisten Dax-Unternehmen, seit Jahren in ausländischer Hand liegt und diese Anleger üppige Dividenden und Aktienrückkäufe der strategischen Weiterentwicklung vorziehen.

Die Deutsche Börse AG, die vor ihrem Börsengang 2001 den deutschen Banken gehörte, hat sich seither prächtig entwickelt. Im Gegensatz zu ihren vormaligen Eigentümern, die den Börsengang mehr oder minder rasch zum Ausstieg aus der Aktiengesellschaft nutzten, gehört die Deutsche Börse zu den stärkeren Gesellschaften, die im deutschen Leitindex Dax, in dem die 30 größten börsennotierten deutschen Konzerne vertreten sind. Von den Margen, die bei der Deutsche Börse AG erzielt werden, können deutsche Banken nicht einmal träumen. Dies, so meint zumindest Börsenvorstandsmitglied Hauke Stars, sei unter anderem auf den technologischen Vorteil zurückzuführen, den man sich in den vergangen Jahren in Frankfurt erarbeitet habe.

Fehlende Transparenz ist das Merkmal der Dark Pools

Die Technik ist allerdings auch ein erhebliches Risiko für die etablierten Börsen. Per Mausklick lassen sich heute im Internet viele Wertpapiergeschäfte online abschließen. Und auch die Banken – und selbst die Börsen – haben neben dem „offiziellen“ Handel inzwischen sogenannte Dark Pools entwickelt, über die heute schon mehr Geschäfte laufen als über den offiziellen Handel. Dark Pools unterliegen nicht den Regeln und der Aufsicht der europäischen Börsen. Das zentrale Merkmal der Dark Pools ist die fehlende Transparenz. Wie viele Wertpapiere zu welchem Preis angeboten oder nachgefragt werden, wird den Händlern nicht angezeigt. Das erschwert die Preisfindung. Die genaue Ausgestaltung der Handelsmöglichkeiten unterscheidet sich von Dark Pool zu Dark Pool.

Daneben haben sich in den vergangenen Jahren auch Finanzdienstleistungsunternehmen (Fintechs) als Konkurrenten der Banken auf dem Markt breit gemacht. Sie bieten viele Leistungen schneller und preiswerter als Banken an, wie sie behaupten. Wer braucht überhaupt noch Banken?, mag sich so mancher Internet-Nutzer fragen. Im Netz wird man überschüttet von Angeboten für Schufafreie Kredite, junge Unternehmen sammeln per „Crowdfunding“ Millionen ein und auch Privatleute können sich über Internet-Plattformen wie Auxmoney oder Smava vermeintlich einfach und günstig Geld besorgen.

Im Aktienhandel spielt Deutschland kaum eine Rolle

„Money makes the world go round“ heißt es im Musical Cabaret. Ja, ohne Geld geht nicht viel, das stimmt. Aber das System, in dem bisher dieser Geldfluss funktionierte, hat sich grundlegend geändert. Bill Gates, der reichste Mann der Welt, hat schon vor Jahren gesagt, dass man zwar „Banking“ brauche, aber keine Banken. Immer mehr geraten inzwischen auch die Handelsplätze unter Druck, an denen bisher Wertpapiere, Rohstoffe oder andere Werte gehandelt werden.

Dennoch, die Absicht der Deutschen Börse, einen unangefochtenen europäischen Marktführer im Börsenhandel sowie im lukrativen Derivategeschäft zu schaffen, ist ein nachvollziehbarer Versuch, den Börsenrealitäten Rechnung zu tragen. Im Aktienhandel ist Deutschland eine unbedeutende Größe gegenüber den großen Aktienmärkten USA, Japan, China und Großbritannien. In Deutschland gibt es kaum kapitalunterlegte Versorgungssysteme und die Aktie führt ein Schattendasein. Der deutsche Sparer hat Angst vor dem Risiko und setzt auch in Null-Zins-Zeiten auf die vermeintlich sicheren Anlagen. Selbst der Aktienmarkt in der kleinen Schweiz mit ihren acht Millionen Einwohnern ist nicht kleiner als der deutsche Aktienmarkt.

Die Deutschen sind misstrauisch

Deutschlands Bürger vertrauen in Sachen Finanzen vor allem einer Person: sich selbst. Nur zwei Prozent, so ergab eine Umfrage von Fidelity Worldwide Investment vor Kurzem, legen Anlageentscheidungen ganz in die Hände eines Beraters. 63 Prozent lassen sich zwar beraten, fällen den finalen Entschluss, in welches Produkt ihr Geld wandern soll, dann jedoch selbst. Das übrige Drittel verzichtet gänzlich auf die Hilfe eines Finanzprofis. Zahlen, die deutlich machen, dass die Finanzkrise langfristige Spuren hinterlassen hat, kommentieren die Fidelity-Experten das magere Vertrauen in die Geldbranche.