Ein Bombenfund bei Bauarbeiten? Eigentlich Routine. Doch als Anwohner aus ihren Häusern geworfen werden und ein Feuerball die Nacht erhellt, wird der Ernst der Lage klar.

München - Es dauert 30 Stunden – bis zum späten Dienstagabend – , da wird die Bombe für die Münchner mehr als eine Randnotiz. Mit einem Schlag ist sie die Breaking News. In Online-Netzwerken wie Twitter und Facebook belächelt man lange die Aufregung in Bayern. Es würden doch ständig Bomben entschärft – warum sollte es diesmal nicht klappen? Bis zu dem Moment um 21.54, als ein roter Feuerball über dem Fundort in den Nachthimmel schießt und eine gewaltige Druckwelle die Fenster umliegender Gebäude bersten lässt. Als das Feuer auf mehrere Dachstühle übergreift, Rettungswagen und Löschzüge der Feuerwehr durch das Sperrgebiet brausen und Helikopter darüberkreisen. Messerscharfe Bombensplitter fliegen Hunderte von Metern weit durch die Luft. Gebäudeteile fliegen auf die Straßen.

 

Eine „kontrollierte Sprengung“ sollte München von der Gefahr befreien, nachdem die Entschärfung gescheitert war. Verletzt wurde niemand, doch das Unterfangen verlief nicht so kontrolliert, wie es sich die Menschen vor Ort gewünscht hätten.

Deutschlandweit werden immer wieder Überreste aus den beiden Weltkriegen gefunden – Hunderte Tonnen Bomben und Munition. Aber die Schwabinger Bombe ist gefährlicher als die Bomben, die schnell entschärft werden und nur als Randmeldungen in Zeitungen auftauchen. Die enorme Wirkung der Sprengung hat nicht nur die Sprengmeister überrascht, wie die Polizei später einräumt. Vor allem die Anwohner haben sich lange nicht vorstellen können, dass hier etwas Bedrohliches passiert.

Zwanzig Stunden vorher, weit nach Mitternacht, wird Veronika Holler rüde geweckt. Scheinwerfer strahlen durchs Fenster und werfen schräge Schatten auf ihre Bettdecke. Jemand trommelt mit Fäusten an ihre Wohnungstür. Gleichzeitig: Sturmklingeln. Die Studentin springt mit wackeligen Knien auf. Während sie in einen Jogginganzug schlüpft, dringt eine Lautsprecherdurchsage von draußen in den dritten Stock der Münchner Wohnung und sorgt für Klarheit: „Diese Straße muss aufgrund einer akuten Gefahrensituation geräumt werden. Bitte verlassen sie sofort ihre Wohnungen. Alles Weitere erfahren sie bei der Feuerwehr.“ Nun also doch.

Am Anfang ist es nur ein Spektakel

Als am Montagmittag eine 250 Kilo schwere Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg bei den Bauarbeiten auf dem Areal einer ehemaligen Münchner Kneipe gefunden wurde, saß Veronika Holler in der Bibliothek und schrieb an ihrer Abschlussarbeit. Der Fund schockierte sie nicht. Auch nicht, dass der Blindgänger gerade mal ein paar Hundert Schritte von ihrer Wohnung entfernt lag. Die Polizei hatte einen Großalarm ausgelöst und ein Gebiet im Radius von 300 Metern abgeriegelt. Die U-Bahn-Station Münchner Freiheit wurde gesperrt, die Bahnen passierten sie in Schrittgeschwindigkeit. Busse wurden umgeleitet. Aber Medien berichteten, bis 20.30 Uhr sei die Bombe entschärft.

Wo früher Alt-68er in der Kultkneipe Schwabinger 7 Bier tranken und jetzt Luxuswohnungen gebaut werden sollen, schwitzten die Sprengmeister den ganzen Tag in der Sonne über dem Sprengsatz aus dem Zweiten Weltkrieg. Zwei Drittel der Bombe lagen frei. Der scharfe Langzeitzünder steckte noch in der Erde, so dass ihn die Experten nicht unschädlich machen konnten. Dieser Zündmechanismus mit Säure macht die Bombe so gefährlich. Ihr Abtransport ist praktisch unmöglich. Sie ist sogar gegen Entschärfen gesichert.

Am frühen Montagabend mussten etwa 800 Menschen ihre Wohnungen verlassen. Veronika Holler, deren Wohnung knapp außerhalb dieser direkten Gefahrenzone liegt, spazierte nach Feierabend auf dem Heimweg an rot-weißen Absperrbändern und blaublitzenden Polizeiautos vorbei. Bis die Einsatzleitung Stunden später entschied, die Evakuierungszone zu erweitern und Veronika Holler von dem Trubel vor ihrer Tür geweckt wurde, war die Bombe nicht mehr als ein Spektakel.

Jetzt, wo sie mit zittrigen Fingern Handy, Geldbeutel, Schlüssel in eine blaue Tasche steckt, und über das Treppenhaus vorbei an Feuerwehrmännern, die an jede Türe trommeln, ins Freie hastet, rast ihr Herz. Mist. Ein Fenster ist noch offen. Als sie umdrehen will, fängt sie ein Polizist ab: „Niemand kommt mehr zurück ins Haus.“

Draußen ist die Leopoldstraße in Blaulicht getaucht. Hier reihen sich Eisdielen, Restaurants und Bars aneinander. Doch statt der üblichen Nachtschwärmer wandern in dieser Nacht ein paar Heimatlose die Gehwege entlang. Die meisten scheinen schon untergekommen zu sein. Wo sonst Tag und Nacht zahlreiche Autos entlangrauschen, scharen sich nun etwa 100 Polizisten und Feuerwehrmänner um ihre Fahrzeuge und erklären den verschlafenen Anwohnern, in welchen Notunterkünften sie schlafen können. 2500 Menschen sind in dieser Nacht heimatlos. In drei Schulen und einer katholischen Akademie sind Feldbetten aufgestellt worden für alle, die nicht wissen wohin. Ein Rentner in karierter Pyjamahose und Pantoffeln schlurft am Schaufenster eines Kaufhauses vorbei. Er scheint noch nicht zu wissen, wohin.

Während sich vor einer eben geräumten Bar ein paar junge Männer mit Baseballkappen lautstark über das jähe Ende ihrer Kneipentour beschweren, setzt sich Veronika Holler auf den Bordstein und telefoniert. Es dauert eine Weile, bis sich jemand findet, der um ein Uhr nachts noch wach ist. Ein Platz auf der Couch? Klappt. Klamotten für morgen? Klappt.

Die Dame will im Keller schlafen – „wie im Krieg“

Aus dem Eingang nebenan stolpert eine Familie mit zwei kleinen Kindern und einer großen Reisetasche. Das Mädchen schläft auf Papas Arm weiter, der Bub bleibt mit offenem Mund vor einem Trupp Feuerwehrmänner stehen. Sie winken. Er fängt an zu weinen. Vor einem bärtigen Feuerwehrmann in Helm und Uniform plustert sich eine ältere Dame auf. Gehstock, rote Jacke, graues Haar. Sie verstehe einfach nicht, warum man ihr verbietet, im Keller zu übernachten. „Im Krieg ging das doch auch.“

Läden und Geschäfte in der Gefahrenzone bleiben geschlossen, Straßen werden gesperrt. Den ganzen Dienstag über verwandelt sich das Verkehrsnetz in ein Staunetz. Am Nachmittag werden drei weitere U-Bahnhöfe geschlossen. Gegen Mittag beschließt die Einsatzleitung, dass der Zünder der Bombe abends mit einem ferngesteuerten Gerät gezogen werden soll. Misslingt dieser Versuch, muss laut Experten sofort kontrolliert gesprengt werden.

Rund um die Baugrube werden Autos abgeschleppt. Helfer schichten einen Wall aus 10 000 Sandsäcken auf. Er soll Splitter abfangen und die Druckwelle in den Boden ableiten. Stroh wird als Dämmstoff herangeschafft. Alle Münchner im Umkreis von einem Kilometer rund um den Fundort, die noch in ihren Wohnungen sind, müssen dort bleiben und sich von Fenstern fernhalten. Das Entschärfen der Bombe misslingt. Schließlich wird sie vor Ort gesprengt. Ein in Deutschland extrem seltener Vorgang. 17 Gebäude werden schwer beschädigt, bei einem ist unklar, ob es einstürzen wird. Der Schaden geht in die Millionen.

Christian Ude besichtigt am Mittwochmorgen die Verwüstungen, die die Explosion verursacht hat. Der Oberbürgermeister zeigt sich erschüttert über das Ausmaß der Zerstörung trotz aller Vorsichtsmaßnahmen. Splitter und Scherben übersäen den Asphalt. Aus den Angeln gesprengte Haustüren und Fenster baumeln im Wind, Brandgeruch liegt in der Luft. Einige der Häuser sind vorerst nicht bewohnbar, ein Bekleidungsgeschäft ist in der Nacht komplett ausgebrannt. „Es sieht aus wie nach einer Straßenschlacht“, sagt der SPD-Politiker. Statiker kontrollieren nun die Häuser, um ihre Stabilität zu klären.

Was bleibt, ist ein Krater mitten in der Stadt. Ein riesiges Loch in der geordneten Welt, das Fragen aufwirft. Die Frage, ob leicht brennbares Stroh geeignetes Dämmmaterial für eine Bombe ist. Es ist ein gängiges Verfahren, wie Experten betonen, aber in dieser Stadtlage? Die Frage, wer für die Schäden aufkommt. Der Oberbürgermeister nennt es eine „schwierige Rechtsfrage, die wahrscheinlich noch gutachterlich zu klären sein wird“. Zugleich betont er: „Selbstverständlich bekommen die Betroffenen Schadensersatz.“ Zwei Versicherungen beteuern, dass sie zahlen wollen. Andere zögern noch. Dann die Frage, wann die letzten 100 Schwabinger in ihre Wohnungen zurückkönnen. Veronika Holler darf am Morgen kurz in ihre Straße, doch die Wohnung bleibt tabu. Es wird noch dauern, bis die Ordnung wieder hergestellt ist.