Es vergeht fast kein Tag, an dem es nicht neue Nachrichten zur desolaten Finanzsituation von Boris Becker gibt. Wie konnte es so weit mit dem Lieblingstennisspieler der Deutschen kommen? Eine Annäherung.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

London - Um den Absturz des Boris Franz Becker, geboren am 22. November 1967 in Leimen, möglichst komprimiert zu dokumentieren, hat fast jedes deutsche Medium zuletzt auf ein und dasselbe Bild zurückgegriffen. Es zeigt einen aufgedunsenen Becker mit einer lächerlichen Fliegenpatsche auf dem Kopf in einer fragwürdigen RTL-Show von Oliver Pocher. Das Bild ist bereits vor vier Jahren entstanden, in einer Zeit, als die Öffentlichkeit noch nicht die leiseste Ahnung davon hatte, wie es um einen der größten deutschen Sportstars finanziell bestellt ist – er selbst offenbar auch nicht.

 

Um sich die ganze Tragweite dieses Absturzes zu vergegenwärtigen, muss der Umweg über die Höhepunkte eingeschlagen werden: Boris Becker steht für unvergessliche Sportmomente, nachdem er 1985 in Wimbledon mit 17 Jahren das wichtigste Tennisturnier der Welt gewonnen hatte. Welche Bedeutung dieser Sieg in Deutschland hatte, lässt sich daran ablesen, dass sich noch jeder daran erinnern kann, wie er das Endspiel damals gegen Kevin Curren erlebt hat. Die Frage: Wo warst du, als Boris Becker zum ersten Mal Wimbledon gewann, steht praktisch auf einer Stufe mit: Wo warst du, als die Mauer fiel?

In Verbindung mit seinem Namen sind Begriffe entstanden, die jeder Deutsche kennt: Becker-Hecht, Becker-Faust und jetzt Becker-Pleite – und was für eine. Die Dimensionen sind nur schwer vorstellbar, wenn man sich dem Fall nähert wie ein Schuldnerberater, den Einnahmen die Ausgaben gegenüberstellt und sich gleichzeitig ein Bild von den Verbindlichkeiten macht. Jeden Tag gibt es neue haarsträubende Nachrichten in diesem Fall. Angeblich sind Boris Becker mittlerweile die Kreditkarten entzogen worden.

Becker soll laut „Stern“ angeblich mehr als vier Millionen Euro an Außenständen bei der Londoner Bank Arbuthnot, Latham & Co haben. Das private Bankhaus übernahm demnach den Schuldschein eines Geldverleihers namens John Caudwell. Der milliardenschwere Geschäftsmann hatte Boris Becker, der diverse Rechnungen schnell begleichen musste, vor drei Jahren mehr als zwei Millionen Euro geliehen, bei einem aberwitzigen Zinssatz von 25 Prozent, den die Bank mit übernommen hat. Der Schuldenberg soll mittlerweile auf vier Millionen Euro angewachsen sein und Becker hat offenbar keinerlei Möglichkeiten, ihn abzutragen. Deshalb hat ihn ein Londoner Gericht für bankrott erklärt.

Nichts mehr übrig von 170 Millionen Euro

Dies löste im Juni einen Mediensturm um Becker aus, der sich inzwischen zum Orkan ausgeweitet hat, weil ständig weitere Details im Fall Becker öffentlich werden. Aufgeschreckt durch die Einschätzung des Londoner Gerichts betrat Beckers früherer Geschäftspartner Hans-Dieter Cleven via „Bild“- Zeitung die Becker-Bühne, um der fassungslosen deutschen Öffentlichkeit mitzuteilen, dass der gefallene Tennisheld auch noch Schulden in Höhe von 37 Millionen Euro bei ihm hätte. Der 74-jährige Cleven, ehemals Finanzchef des Handelsriesen Metro und eine Zeit lang zusammen mit Boris Becker Anteilseigner der Sportartikelfirma Völkl, half offenbar seinem prominenten Partner von 2001 an immer wieder finanziell aus der Patsche, angefangen mit einer Zwei-Millionen-Schnellhilfe, um Steuerschulden zu begleichen und den Gang ins Gefängnis abzuwenden. Die Situation verschärft der nicht gerade bescheidene Lebensstil Beckers. Seit Jahren lebt er in einer Villa in Wimbledon, geschätzte Monatsmiete 35 000 Euro. Dazu die Unterhaltszahlungen für die Ex-Frau Barbara Becker und die Versorgung von insgesamt vier Kindern.

Während Schulden und Ausgaben offenbar völlig aus dem Ruder gelaufen sind, ist die derzeitige Einnahmenseite überschaubar. Sein Verdienst als Tennis-Co-Kommentator bei den Fernsehsendern BBC und Eurosport, Stargastauftritte und repräsentative Aufgaben stehen in keinem Verhältnis zu seinen Fixkosten. Außerdem scheint das Geld vom Verkauf der drei Boris-Becker-Autohäuser in Mecklenburg-Vorpommern verbraucht zu sein.

Auch die von Becker regelmäßig als Kapitalanlage angeführte Finca auf Mallorca taugt schon lange nicht mehr als Sicherheit. Der Villa ist die Last der Hypotheken förmlich anzusehen. Augenzeugen zufolge macht sie schon seit längerer Zeit einen unbewohnten und zunehmend heruntergekommenen Eindruck. Die Immobilie war auch Gegenstand einer Unterhaltung zwischen Gläubiger und Schuldner. Laut Cleven habe Becker ihm angeboten, dass er seine Mallorca-Villa übernehmen könne. Worauf Cleven laut „Bild“-Interview geantwortet hat: „Boris, ich muss dich erinnern, die Finca habe ich schon!“

Trotz allem bleibt es schwer vorstellbar, dass Boris Becker nicht mehr in der Lage sein soll, ein finanziell unabhängiges und sorgenfreies Leben führen zu können. Schließlich hat er nicht nur dreimal Wimbledon gewonnen, zweimal die Australian Open und einmal die US Open, sondern hat auch bis zu seinem Rücktritt 1999 Preisgelder in Höhe von 35 Millionen eingenommen. Dazu kommen enorme Werbeeinnahmen, was einen Karriereumsatz von 160 bis 170 Millionen Euro ergibt. Zudem verdiente er auch später als deutscher Daviscup-Teamchef und erfolgreicher Trainer des Langzeit-Weltranglistenersten Novak Djokovic phasenweise sehr gut.

Wo ist nur das ganze Geld geblieben? „Er ist an die falschen Berater geraten“, antwortet Jens-Peter Hecht, der Beckers gesamte Karriere hautnah miterlebt hat. Der langjährige Pressesprecher des Deutschen Tennis-Bundes saß schon 1984 auf dem Bett des 16-jährigen Becker im Londoner Gloucester Hotel, nachdem der Teenager als Wimbledon-Qualifikant in der dritten Runde gegen den US-Amerikaner Bill Scanlon mit einem Bänderriss aufgeben musste. Hecht war auch bei den deutschen Daviscup-Triumphen 1988 und 1989 in Göteborg und Stuttgart an Beckers Seite. „Ich habe Boris als netten, bodenständigen und sehr ehrgeizigen Jungen erlebt“, sagt Jens-Peter Hecht.

Viele Jahre waren Becker und sein gewiefter Manager Ion Tiriac ein unschlagbares Doppel. „Mit dem alten Teppichhändler Tiriac wäre Boris nicht pleitegegangen“, vermutet Hecht, der den Managerwechsel hin zum Rechtsanwalt Axel Meyer-Wölden als ersten Schritt in die falsche Richtung ausgemacht hat. „Die Münchner Schickeria, in die er gar nicht gepasst hat, wollte sich mit ihm schmücken und Geschäfte machen“, sagt der alte Wegbegleiter. Ihn hat es nicht völlig überrascht, dass Boris Becker in finanzieller Notlage ist. „Diese Gerüchte machten ja schon länger die Runde“, so Jens-Peter Hecht, „ich war allerdings auch der Überzeugung, dass er noch Geld irgendwo in der Hinterhand hat. Aber das ist ja offensichtlich nicht der Fall.“

Jens-Peter Hecht sieht es als einen entscheidenden Fehler an, dass Boris Becker nach der Karriere als Spieler nicht sofort ganz konsequent an einer Trainerkarriere gearbeitet hat: „Er ist ein großer Tennisexperte, aber kein großer Geschäftsmann.“

Boris Becker ist immer ein Spieler, ein Zocker geblieben

Aus seinen Erfolgen als Sportler hat Boris Becker ganz offensichtlich die falschen Schlüsse gezogen. Die „Ich-kann-alles“-Mentalität und eine „Mir-muss-niemand-mehr-etwas-erklären“-Einstellung haben sicher Anteil an der dramatischen Situation. Ehemalige Vertraute von Becker berichten davon, dass er Widerspruch irgendwann nicht mehr geduldet und Ratgeber, die ihm zur finanziellen Mäßigung geraten haben, völlig überhört habe. Ihm sei komplett die Kontrolle über seine finanzielle Situation entglitten, heißt es. Weil er immer der festen Überzeugung gewesen sei, allein sein guter Name genüge als Zahlungsmittel und wäre eine harte Währung. So sollen sich bei Boris Becker zuletzt die Rechnungen und Mahnungen ungeöffnet gestapelt haben. Und sein englischer Anwalt attestiert ihm, in finanziellen Dingen „nicht sehr clever“ zu sein. Ein nicht unbekanntes Problem im Tennis. Auch die Tennislegende Björn Borg legte als Unternehmer eine Bruchlandung hin.

Boris Becker ist ein Spieler geblieben, ein Zocker, nach dem Motto: Mit 0:40 zurückzuliegen ist kein Problem, das Spiel hol’ ich mir noch, und zwar mit absoluten Risikoschlägen. Diese Überzeugung hat er auch als Geschäftsmann gehabt. Jetzt steht es 0:40 Millionen, wenn man die Schulden zusammenzählt. Dieses Match ist eigentlich schon verloren. „Das Leben ist kein Spiel“, heißt das Boris-Becker-Buch. Der Titel kann aktuell durchaus als Warnung seines Biografen Christian Schommers verstanden werden. Becker liebt das Spiel, das Glückspiel.

Als Pokerprofi hat Boris Becker zwischenzeitlich auch auf sich aufmerksam gemacht. „Beim Pokern kommt mir entgegen, dass ich kein nervöser Mensch bin, dass ich meine Gefühle kontrollieren kann“, hat Boris Becker einmal gesagt. Die Kontrolle über seine Finanzen hat er nicht mehr. Auch wenn er sich an dem einen Satz immer wieder festhält, je schlechter sein Karten auch werden: „Ich bin nicht pleite.“ Und kämpfen werde er jetzt, hat er angekündigt, das habe er schließlich auf dem Tennisplatz auch immer gemacht.