Der Oberbürgermeister Tübingens, Boris Palmer, spricht im StZ-Interview über den Stresstest zu Stuttgart 21 und die Interpretation der Ergebnisse.

Regio Desk: Achim Wörner (wö)

Tübingen - Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer ist bei der Stuttgart-21-Schlichtung im Herbst vergangenen Jahres der versierteste Kritiker der Bahn AG gewesen. So profund waren die Einwände des rhetorisch versierten Verkehrsexperten, dass am Ende der Schlichtung ein Stresstest vereinbart wurde - und der Bahn-Vorstand Volker Kefer dem Politiker Palmer ein Jobangebot unterbreitete.

 

Herr Palmer, arbeiten Sie jetzt eigentlich für die Bahn, wie es Bahn-Vorstand Kefer Ihnen in der Schlichtung angeboten hat?

Zurzeit bin ich ehrenamtlicher Mitarbeiter der Revision der Bahn. Ich suche nachts die Tricks, die der Konzern benutzt hat, um den Stresstest scheinbar zu bestehen.

Der Stresstest sollte doch den Streit um die Leistungsfähigkeit beenden. Jetzt fachen Sie ihn noch mal neu an?

Den Streit verdanken wir der Bahn. Sie hat den Test alleine erstellt. Wenn das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, wie ausgemacht, von Beginn an eingebunden gewesen wäre, müssten wir uns jetzt nicht darüber streiten, was "bestanden" heißt.

Aus Ihrer Sicht stimmen schon die Prämissen der Bahn nicht?

Ja, das fängt bei der Notenskala an. Vereinbart hatten wir eine "gute" Betriebsqualität. Jetzt sagt die Bahn, "wirtschaftlich optimal" ist auch bestanden. Das ist aber nicht "gut", sondern "befriedigend" und heißt: Verspätungen können nicht abgebaut werden.

Jetzt hat sich der Schlichter Heiner Geißler auf Ihre Seite geschlagen. Mussten Sie viel Überzeugungsarbeit leisten?

Keineswegs. Heiner Geißler saß mit am Tisch, als in der Schlichtung die Vereinbarungen mit der Bahn getroffen wurden. Es freut mich, dass er sich daran erinnert, was wirklich besprochen worden ist, und sich nicht auf das Managerdeutsch einlässt.

Wobei die Bahn sich zufrieden zeigt mit dem Testat der Prüfer von SMA, die ja auch die Wahl der Gegner von Stuttgart 21 waren.

Der Gutachter selbst ist in der Tat nicht zu kritisieren, was sich bei genauer Lektüre der Expertise zeigt. Die SMA hat der Bahn im Kleingedruckten nachgewiesen, dass sie alles getan hat, um das Ergebnis schönzurechnen. Die von der Bahn angesetzten Haltezeiten und Zugabstände entsprechen beispielsweise gar nicht den Vorschriften und auch der Umstand, dass an einem Bahnsteig bei der Hälfte aller Fahrten zwei Züge halten, ist bundesweit ein Novum.

Sie wollen allen Ernstes behaupten, die Bahn will einen Chaosbahnhof bauen?

Ich fürchte, da schlägt die alte Börsengangmentalität der Bahn durch. Denn wenn Stuttgart 21 schon gebaut werden soll, dann müsste es - wie vom Schlichter verlangt - als Stuttgart 21 plus realisiert werden. Aber davon ist keine Rede mehr. Und so sollen wir statt des heute pünktlichsten Hauptbahnhofs in Deutschland eine Zugstation bekommen, in der der Verkehr regelmäßig zusammenbrechen wird.

Pardon, die Bahn sieht das ganz anders: Test bestanden, der Nachweis für einen leistungsfähigen Bahnhof sei erbracht - und damit stehe einem Weiterbau nichts im Wege.

Die Bahn ist gut beraten, ihr eigenes Gutachten ernst zu nehmen. Die SMA empfiehlt unter anderem dezidiert auch, einen weiteren Stresstest durchzuführen, um die jetzt aufgetretenen Unstimmigkeiten zu klären und zu korrigieren. Die Forderung des Aktionsbündnisses lautet, diesen zweiten Stresstest durchzuführen - und dabei von Anfang an beteiligt zu werden.

Wollen Sie das am Freitag durchzusetzen?

Wir werden als Kritiker am Freitag mit den Aussagen des Gutachtens aufzeigen, dass der jetzt vorgestellte Stresstest in Wahrheit die schlechteste Note, nämlich "mangelhaft", für Stuttgart 21 bedeutet. Die Bahn muss aber den Nachweis bringen, dass sie einen leistungsfähigen Bahnhof baut. Das ist sie der Öffentlichkeit schuldig. Und abschließend klären kann man das nur, wenn sie den Stresstest mit dem Aktionsbündnis ordentlich zu Ende bringt.

Nach der jüngsten Bürgerumfrage der Stadt sieht die Mehrheit der Stuttgarter das Projekt positiv. Überrascht Sie das?

Ich vermute, dass viele Menschen die Nase voll haben von den seit vielen Jahren währenden Debatten über Stuttgart 21. Und sicherlich wirkt auch stark die Empfehlung des Schlichters Geißler für ein Stuttgart 21 plus - Betonung auf plus, wohlgemerkt. Ich glaube, aber, dass sich das bald ändert, wenn man sieht, wie dreist die Bahn die Öffentlichkeit getäuscht hat.

Die grün-rote Landesregierng hat sich, sofern er zustande kommt, auf einen Volksentscheid verständigt. Ist dieser bindend?

Ich gehe nach wie vor davon aus, dass Stuttgart 21 an explodierenden Kosten und mangelhafter Leistungsfähigkeit scheitern wird. Aber in der Tat: wenn das Volk gesprochen hat, sollte die Politik schweigen.

Herkunft

Geboren ist Boris Palmer am 28. Mai 1972 in Waiblingen als Sohn des berühmten Remstalrebellen Helmut Palmer, der bei unzähligen Bürger- und Oberbürgermeisterwahlen im Land kandidiert hat – ohne je ins Amt zu kommen. Der Vater, mit dem Boris Palmer in Kindheit und Jugend in aller Herrgottsfrüh auf den Wochenmärkten unterwegs war, hat ihn politisch geprägt. Doch früh auch hat sich der einstige Student der Mathematik und Geschichte auch emanzipiert – und es zum Oberbürgermeister von Tübingen gebracht. Seit Januar 2007 ist er dort in Amt und Würden.

Politik

Früh hat Boris Palmer mit den Grünen sympathisiert, denen er seinen politischen Aufstieg zu verdanken hat. 2001 ist er erstmals für die Ökopartei in den Landtag gewählt worden, wo er sich als umwelt- und verkehrspolitischer Sprecher seiner Fraktion profilierte. Palmer gehört dem Parteirat der Grünen an.