Der Pechvogel Christoph Kramer geißelt sich nach seinem spielentscheidenden Eigentor gegen Dortmund selbst. „So ein Tor sollte nicht passieren, aber es passiert“, sagte der 23-Jährige. „Viel mehr ärgert mich, dass ich so eine Grütze gespielt habe.“

Dortmund - Der ärztliche Befund über die Verletzung des griechischen Prellbocks namens Sokratis passte bestens zu dem außergewöhnlichen Borussen-Treffen in Dortmund. Der Innenverteidiger des BVB hatte sich bei einer rabiaten Grätsche gegen Gladbachs André Hahn kurz vor Schluss verletzt – und ehe es in den Feierabend ging, übermittelte die Dortmunder Presseabteilung die genaue Diagnose: „Unverschobener, belastungsstabiler Wadenbeinbruch rechts.“ Der harte Hellene falle mindestens zweieinhalb Wochen aus.

 

Mehrere Ausfälle hatte auch die andere Borussia, die vom Niederrhein, zu beklagen – allerdings während des Spiels. Als besonders schwerwiegender Fall erwies sich dabei Christoph Kramer. Dessen Berufsleben war im Kalenderjahr 2014 derart traumhaft verlaufen, dass sich der gebürtige Solinger zuletzt für eine Art moderner Siegfried hielt. Einem Freund erzählte der vermeintlich unbesiegbare Kramer zwei Tage vor der Partie beim BVB jedenfalls, eines werde ihm nie unterlaufen – ein Eigentor. 50 Stunden nach dem Telefonat verschaffte Gladbachs Leihgabe aus Leverkusen den Dortmundern ein Glücksgefühl – mit einem Schuss ins eigene Tor, der in den Fußballarchiven seinesgleichen sucht.

Das ahnte auch der Kunstschütze wider Willen, als er eine Dreiviertelstunde nach Spielschluss aus dem Stadion trat. In seinem Schädel rumorte noch die bizarre Szene aus der 58. Minute, als ihm der Teamkollege Tony Jantschke den Ball zuspielte – und Kramer, 44,5 Meter vom eigenen Tor entfernt, eine Bogenlampe über seinen Torwart Yann Sommer hinweg produzierte. Es blieb der einzige Treffer, auch wenn die klar überlegenen Gastgeber vor und nach Kramers ungewolltem Highlight acht hochkarätige Chancen vergaben.

Kramer: So ein Tor sollte nicht passieren

Nicht zuletzt diese Freizügigkeit im Umgang mit ihren Gegnern hatte dem Vizemeister fünf Liganiederlagen in Serie und, für 23 Stunden, die rote Laterne im Oberhaus beschert. Nach dem Sieg über Gladbach sind die Westfalen nun Vierter von unten, und ihr Trainer entsandte eine Dankesbotschaft an Kramer: „Wenn er das Tor nicht gemacht hätte – ich fürchte, wir hätten keins gemacht“, sagte Jürgen Klopp.

Dem Empfänger selbst stockte noch immer der Atem, als er seine fulminante Fehlleistung recht offenherzig rekapitulierte. „Ich wollte den Ball flach zurückspielen, doch als ich sah, dass der Ball hochging, dachte ich ‚Scheiße‘. Als ich sah, dass Yann Sommer so weit vor dem Tor steht, dachte ich noch mal ‚Scheiße‘. Und als der Ball im Tor war, dachte ich ‚große Scheiße‘“, sagte der Weltmeister, der damit die erste Gladbacher Pleite nach der Vereinsrekordmarke von 18 niederlagenlosen Partien en bloc verursachte.

Sportliches Drumherum ärgert Kramer am meisten

Noch mehr als für sein Eigentor schämte sich Kramer aber für das sportliche Drumherum. „So ein Tor sollte nicht passieren, aber es passiert – und das ist menschlich“, sagte der 23-Jährige, der gleich darauf klarstellte: „Viel mehr ärgert mich, dass ich heute so eine Grütze gespielt habe.“ Nur 39 Prozent gewonnene Zweikämpfe, dazu eine Fehlpassquote von 31 Prozent – diese Bilanz erschütterte Kramer zutiefst. „Wenn so ein wichtiger Mann in der Zentrale wegbricht, ist jeder Matchplan über den Haufen geworfen“, geißelte er sich derart selbst, dass Profiteur Klopp umgehend verbale Streicheleinheiten gab. „Ich halte ihn für einen außergewöhnlichen Kicker, und dieses Tor wird für ihn als Kuriosität eine Randnotiz in seinem Leben bleiben“, sagte der 47-Jährige.

Wie das mit seinen aufopferungsvoll kämpfenden, schnell und brandgefährlich kombinierenden, letztlich aber doch beschenkten Borussen weitergeht – auch davon hat Klopp zumindest eine Ahnung. In zwei Wochen geht es hinüber nach Paderborn, zu jenem Club, der mit seinen vielen ehemaligen Dortmunder Profis eine Art ostwestfälische Verwertungsgesellschaft des BVB ist. „Dieses Spiel war ein Zeichen für uns, dass es geht“, sagte Klopp, ehe er sich nachträglich bei Sportdirektor Michael Zorc und Clubchef Hans-Joachim Watzke bedankte – „dafür, dass sie mir keine komischen Fragen gestellt und mir nicht immer fragend hinterhergesehen haben“.

Zorc („Gladbach war nur ein erster Schritt, in Paderborn müssen wir weitermachen“) nahm das in gedrosselter Euphorie entgegen. Während Jürgen Klopp, der als Letzter von Sokratis’ Verletzung erfuhr, zu der verspäteten Information amüsiert-pikiert anmerkte: „Wahrscheinlich waren hier alle so glücklich, dass sie vergessen haben, mich in Kenntnis zu setzen.“