Hans L. Merkle ist jahrzentelang der uneingeschränkte Herrscher im Bosch-Konzern gewesen. Heute ist nur noch selten von dem Mann die Rede.

Stuttgart - Die große Jubiläumsgala von Bosch in diesem Frühjahr hätte Hans L. Merkle schon aus einem Grund gefallen: er kam darin so gut wie nicht vor. Denn der Mann, der den Konzern über Jahrzehnte hinweg bis zu seinem Tod im Jahr 2000 geprägt hat, war ein Meister des Understatements. Wo sich andere als Konzernstrategen pfauenhaft in Szene setzten, beharrte er stets auf der gebückten Haltung, auf der Rolle des Dieners – des Dieners „des Hauses Bosch“, wie er zu sagen pflegte. Das war sein vielfach wiederholtes Kredo, hinter dem sich aber ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, ja Arroganz, verbarg.

 

Der dritte Chef des Konzerns nach dem Gründer Robert Bosch und dessen Nachfolger Hans Walz legte keinerlei Wert auf demonstrative öffentliche Wertschätzungen. Er selbst wusste um seinen Rang, und all jene, die ihm wichtig waren, wussten es auch. Wozu also Öffentlichkeit? Als er 1993 sein letztes Amt im Unternehmen abgab, da mochte Merkle das am liebsten verschweigen. Erst nach einigen Diskussionen gelang es dem Pressechef in einer längeren Mitteilung über personelle Veränderungen im Konzern einen allerletzten Satz unterzubringen: „Hans L. Merkle ist ausgeschieden.“ Kein weiterer Kommentar.

Wikipedia widmet Merkle gerade mal neun Zeilen

Merkle war zu jenem Zeitpunkt 80 Jahre alt. Als er sieben Jahre später starb, da waren die Zeitungen voll von Würdigungen, die keinen Zweifel an der Bedeutung dieses Managers ließen. „Merkle war einer der hervorragenden, vielleicht der alles überragende deutsche Wirtschaftsführer des zwanzigsten Jahrhunderts“, hieß es zum Beispiel in der Stuttgarter Zeitung. Übertrieben? So mag es rückblickend erscheinen, da die Zeit über Merkle mit brachialem Tempo hinweggegangen ist. Das Online-Lexikon Wikipedia etwa widmet ihm gerade mal neun Zeilen. Aber es ist auch die Welt von Merkle, die untergegangen ist: Die Deutschland AG, jenes enge Beziehungsgeflecht der führenden Köpfe aus heimischer Industrie und Hochfinanz, existiert nicht mehr.

Merkle war einer der wichtigsten Akteure dieser Deutschland AG. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hat das in seiner typischen Art im Januar 1983 so beschrieben: „Was Hermann Josef Abs in seinen Glanzzeiten für die Bankenwelt war, das stellt Hans L. Merkle heute für Deutschlands Industrie-Szene dar: einen gefürchteten und geachteten Patriarchen, einen Mann mit vielfältigen Verbindungen, eine Art Pate der Manager-Kaste. Wenn Merkle auf einem Empfang auftritt, wird die Gesprächskulisse gleich um einige Phon leiser.“ Als Machtbasis dienten ihm seine Beziehungen zur Deutschen Bank; er soll sogar behauptet haben, dass er bei der Deutschen Bank vor dem legendären Abs, der dort 1937 anfing, gearbeitet habe.

Der Unnahbare sprach leise

Merkle gehörte dem Aufsichtsrat der Bank von 1960 bis 1988 an, für kurze Zeit sogar als dessen Chef, weil der Amtsinhaber aus gesundheitlichen Gründen passen musste. „Damit wurde mit einer langen Tradition der Deutschen Bank, nämlich dass der Aufsichtsratsvorsitzende aus dem Kreis der ehemaligen Vorstandssprecher rekrutiert wurde, gebrochen“, schreibt die Historische Gesellschaft der Deutschen Bank und betont das große Vertrauen, das Merkle damit entgegengebracht wurde.

So wie sich die deutsche Wirtschaft seit Merkles Zeiten geändert hat, so hat auch Bosch einen Wandel durchgemacht, hat sich geöffnet. Einst war das gesamte Unternehmen von Merkle und seinem asketisch-aristokratischen Habitus, gepaart mit beamtenhafter Pedanterie, geprägt. Der Unnahbare sprach leise, und deshalb fanden Gespräche mit Bosch-Repräsentanten immer in einer teppichbodengedämpften Tonlage statt. Augenzwinkernd und ehrerbietig zugleich galt er manchen als „Gottvater“. Der gebürtige Pforzheimer war nicht nur zwischen 1963 und 1984 als Vorsitzender der Geschäftsführung der unumschränkte Herr im Hause Bosch, sondern behielt auch darüber hinaus bis zu seinem Tod 16 Jahre danach maßgeblichen Einfluss; unabhängig von der offiziellen Funktion wurde der Sohn eines Druckereibesitzers und Verlegers um seine Meinung gefragt, wenn wichtige Entscheidungen anstanden. Fälle, in denen versäumt wurde, dieses selbstverständlich bindende Votum einzuholen, sind nicht bekannt.

"Einer der wichtigsten Unternehmensführer in Deutschland"

Trotz dieser Dauerdominanz gibt es erstaunlich wenige industrielle Weichenstellungen im Konzern, die bis heute nachwirken und mit seinem Namen verknüpft sind. Merkles epochale Leistung liegt auf einem anderen Gebiet: Er hat dem Unternehmen 1964 eine bis heute stabile Verfassung gegeben. Insbesondere Robert Boschs Erben wurden zum weit gehenden Verzicht bewegt, ohne dass die Familie verprellt worden wäre. Mit dem Einverständnis der Erben und in Übereinstimmung mit Boschs Testament wurde die heutige Robert-Bosch-Stiftung gegründet, die 92 Prozent der Anteile an dem Unternehmen Bosch hält. Bei der Familie liegen sieben Prozent; der Rest entfällt auf die Robert Bosch Industrietreuhand KG, die die Stimmrechte der Stiftung wahrnimmt und das eigentliche Machtzentrum des Konzerns ist. Hier sitzen frühere mit amtierenden Geschäftsführern zusammen, ergänzt durch Persönlichkeiten, die dem Konzern nahestehen, und bestimmen die strategische Linie. Geld ist für den Eintritt in diesen erlauchten Kreis nicht erforderlich, nur Reputation.

Zu den Bewunderern Merkles gehört der Stuttgarter Unternehmer Heinz Dürr, der von ihm einst zu dem Elektrokonzern AEG gelotst wurde: „Er war einer der wichtigsten Unternehmensführer in Deutschland und für mich so etwas wie ein Vorbild, nicht nur als Chef der Robert Bosch GmbH, sondern auch, weil er sich mit Politik, Philosophie und Kunst beschäftigte“, schreibt der frühere Chef von AEG und Bahn in seinen Memoiren „In der ersten Reihe – Aufzeichnungen eines Unerschrockenen“. Für ihn ist Merkle ein Mann, der Macht nicht nur durch seine Stellung, sondern aufgrund seiner Persönlichkeit besaß. Dürr: „Er konnte sehr gewinnend sein, aber auch eiskalt bestimmend.“ Stets wollte Merkle die Kontrolle haben – sogar über den Tod hinaus. Die Trauerrede an seinem Grab hat er noch selbst aufgesetzt.

"Trägheitsloser Verkehr"

„Merkle hat sich immer sehr ums Detail gekümmert“, erinnert sich der Haupteigner des Stuttgarter Maschinenbauers Dürr im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung. Der 78-Jährige findet das auch richtig; er selbst misstraut Managern, die führen wollen, aber vom Geschäft selbst keine Ahnung haben. Und so sieht Dürr Merkle förmlich noch vor sich, wie der Bosch-Chef sich Anfang der achtziger Jahre in das neue Sachgebiet Telematik, also Telekommunikation plus Informatik, hineinkniete und in Besprechungen mit dem Unternehmensberater Rolf-Dieter Leister, der damals für die AEG arbeitete, von „trägheitslosem Verkehr“ sprach. Dass Merkle dabei einmal auch Pfeife geraucht hat, löst bei Bosch heute noch ungläubiges Staunen aus.

Merkle kannte Dürr aus Stuttgart und versprach sich Vorteile davon, dass auf dem AEG-Chefsessel jemand saß, dem er Vertrauen entgegenbringen konnte. Damals versuchte Merkle Bosch in der Telekommunikation voranzubringen, um die Abhängigkeit vom Fahrzeuggeschäft zu lockern, und zeigte Interesse an den AEG-Töchtern Telenorma und ANT. Nach Einschätzung des damaligen AEG-Chefs hat sich Merkle aber seinerzeit vor dem großen Wurf gescheut: „Da hat ihm der Mut gefehlt“, glaubt Dürr. Zwar kam der Bosch-Chef an die AEG-Telekommunikation, aber er nahm – offenbar aus Gründen der Vorsicht – den Versicherungsriesen Allianz und den Mannesmann-Konzern mit ins Boot. Aus Dürrs Sicht hätten damals noch weitere Aktivitäten wie die Hochfrequenztechnik oder die Hausgeräte gut zu Bosch gepasst. Aber ein weiterer Abschluss kam nicht zustande. Letztlich hatte Bosch in der Telekommunikation keinen dauerhaften Erfolg und stieg später aus. Merkle selbst gab dazu noch sein Plazet.

"Zu einer guten Spitze gehören immer zwei"

Macht macht einsam. Und so ist es kein Wunder, dass über Vertraute des Patriarchen kaum etwas bekannt ist. Umso mehr erstaunt es, dass Merkle ausgerechnet folgenden Grundsatz vertreten hat: „Zu einer guten Spitze gehören immer zwei.“ Natürlich hätte Merkle keinen Partner auf Augenhöhe akzeptiert. Aber er hat den Rat eines Mannes gesucht: Paul A. Stein, der Ende 2007 gestorben ist. Der Jurist hatte 1953 in der Rechtsabteilung begonnen und gehörte jahrzehntelang der Geschäftsführung sowie der Treuhand KG an. Dürr hat bei Verhandlungen beobachtet, dass Merkle, der Jura und Volkswirtschaftslehre studiert hatte, die Zustimmung Steins einholte.

Zu den unbekannten Seiten Merkles gehören die ersten Jahrzehnte seines Lebens. Fast scheint es, als sei er erst mit dem Eintritt in die Geschäftsführung von Bosch 1958 zum Leben erwacht. Aus der Zeit davor ist eigentlich nur bekannt, dass er bei der Textilfirma Gminder war. Was er im Dritten Reich gemacht hat, ob er Soldat war – niemand weiß es, niemand hat ihn gefragt. Heinz Dürr ärgert sich heute, dass er damals nicht nachgehakt hat, als Merkle ganz beiläufig erwähnte, dass er in der Zeit in Berlin am Tiergarten gewohnt habe.

Eine Karriere im Zeichen von Bosch

1913 Hans Lutz Merkle wird am 1. Januar als Sohn eines Druckereibesitzers und Verlegers in Pforzheim geboren. Nach dem Schulbesuch macht er eine kaufmännische Lehre im väterlichen Betrieb und
studiert danach Jura und Volkswirtschaftslehre.

1935 Merkle arbeitet bei dem Reutlinger Textilunternehmen Ulrich Gminder AG, wird später Direktor und 1949 Vorstandsmitglied.

1958 Wechsel zur Bosch als stellvertretender Geschäftsführer. 1963 wird er Vorsitzender der Geschäftsführung.

1984 Merkle gibt er die Geschäftsführung ab. Als Aufsichtsratschef und Gesellschafter der Treuhand KG behält er aber seinen Einfluss.

1988 Aus Altersgründen scheidet er aus dem Aufsichtsrat aus, wird aber zum Ehrenvorsitzenden ernannt. 1993 gibt er das letzte offizielles Amt bei der Treuhand KG ab.

1990 Ehefrau Annemarie, geborene Schlerff, mit der er seit 1941 verheiratet war, stirbt.

2000 Am 22. September stirbt Hans L. Merkle.