Der Fall einer angeblich von ihrer Pflegefamilie gequälten 19-jährigen Deutschen wühlt Bosnien auf. Noch ist nicht klar, ob die Vorwürfe stimmen. Die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit scheinen fließend zu sein.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Tuzla - Das Schicksal der rothaarigenFrau mit den aufgequollenen Wangen, deren verwackeltes Foto durch die Medien geht, erschüttert die ganze Nation. Karla oder „Bedina“ wurde die Deutsche von ihren Pflegeeltern in dem nordostbosnischen Dorf Gojcin bei Tuzla genannt. Acht Jahre lang soll sie nach Angaben der Nachbarn von ihren Stiefeltern versklavt, misshandelt und missbraucht worden sein.

 

Von einem der „schlimmsten Verbrechen der bosnischen Geschichte“ berichtete am Wochenende schaudernd die Zeitung „Dnevni Avaz“ in Sarajevo. Die Zeitung „Oslobodenje“ fühlte sich gar an den „grauenhaftesten Horrorfilm“ erinnert. Doch ob Karla tatsächlich zum Opfer eines irren Verbrechens wurde oder ob ihre Stieffamilie das Opfer eines gezielten Rufmords durch ihre Nachbarn ist, müssen die Ermittlungen zeigen. Die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit scheinen hier fließend zu sein.

Aufgrund eines wiederholten Hinweises eines Nachbarn hatte die Polizei das Mädchen Mitte Mai in einem Frauenhaus untergebracht. Nach Medienberichten glaubten die Beamten dem Nachbarn die Existenz des Mädchens erst, als er ein Foto vorlegte. Die Eheleute hätten das ihnen von der Mutter Christiane anvertraute Mädchen „wie eine Sklavin“ gehalten, es zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen, es körperlich misshandelt und durch „viele Männer“ und selbst durch Hunde sexuell missbrauchen lassen, berichtete der Nachbar Sead M. nun den heimischen Medien. „Sie durfte nicht im Haus schlafen, sondern nur draußen im Stall mit den Schweinen und Hunden“, sagte er. Ein weiterer Nachbar, Esad R., gab zu Protokoll, dass die Eheleute das Mädchen wie einen Esel vor einen Wagen gespannt und lachend mit „Hüja“-Rufen angetrieben hätten.

Die Behörden dementieren die Vergewaltigung

Das Ehepaar Milenko und Slavojka M., das am Dorfrand am Ende eines abgelegenen Feldwegs wohnte, sitzt wegen des Verdachts der „unmenschlichen Behandlung“ einer Schutzbefohlenen mittlerweile in einmonatiger Untersuchungshaft. Interpol und die deutsche Justiz sind in die Ermittlungen eingeschaltet. Doch obwohl die Staatsanwaltschaft in Tuzla bestätigt, dass das Mädchen psychisch und physisch angeschlagen sei, dass es offenbar schwere körperliche Arbeit habe verrichten müssen und Verletzungen am Kopf aufweise, hat sie die Nachbarn- und Medienberichte über sexuellen Missbrauch eindeutig dementiert. Der Verdacht der Vergewaltigung habe sich bei der gynäkologischen Untersuchung nicht bestätigt.

Gegenüber einem Kamerateam des Senders Al-Dschasira bezeichneten Angehörige der Pflegeeltern die Behauptungen ihrer muslimischen Nachbarn als Lüge: „Sie hassen uns, weil wir Serben sind.“ Das Mädchen, deren Spitzname Bedina laut bosnischen Medien auf das deutsche Wort „Bedienung“ zurückgehen soll, sei keineswegs versklavt gewesen, sondern habe arbeiten müssen wie alle anderen Angehörigen der Familie, so eine Tante. Die Vorwürfe der Misshandlung seien von den Nachbarn erfunden. Gelegentliche Schläge habe die junge Frau nur erhalten, um sie „vom Ausgehen mit Muslimen abzuhalten“.

Erst die Sensationsberichte haben die Justiz aufgeweckt

In dem Beitrag kam auch die etwas verwirrt wirkende Mutter des Mädchens, Christiane S., auf Deutsch zu Wort. Ihrer Tochter sei es bei ihrem früheren Mann gut ergangen: „Sie bekam hier Essen und alles. Es ging ihr gut.“

Die Nachbarn behaupten, dass Marinko M. die Mutter mit dem ostdeutschen Akzent in Österreich kennengelernt habe: Mit einer Scheinheirat habe sie dem in Bosnien bereits verheirateten Mann die Staatsbürgerschaft und eine Arbeitserlaubnis in Deutschland verschafft. Den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen haben die Ermittler genauso zu klären wie die Frage, ob die abgemagerte Karla von ihrer Gastfamilie tatsächlich in einem nahen Wald vor der Polizei versteckt wurde oder ob sie dorthin nach einem Familienzwist ausgebüxt war.

Auch zum Schutz der Privatsphäre des Mitte Mai aufgegriffenen Mädchens habe die Staatsanwaltschaft den Fall zunächst wohlweislich nicht an die Öffentlichkeit gebracht, teilte deren Sprecher in Tuzla mit. Zur verspäteten Auskunftsfreude sah sich Bosniens Justiz erst durch die Sensationsberichte der heimischen Presse am Wochenende genötigt.