Es gibt viele Orte auf der Welt, an denen mehr Menschen sterben als am Montag in Boston. Trotzdem beherrschen die Anschläge in Amerika die Schlagzeilen. Dafür gibt es Gründe, glaubt StZ-Redakteur Christian Gottschalk.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Boston - Die Welt tickt ungerecht. Als vor wenigen Tagen im Süden Thailands zwei Polizisten bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen sind, da hat das in Europa praktisch niemanden interessiert. Fast zur gleichen Zeit, zu der am Montag in Boston die Ereignisse ihren Lauf nahmen, starben im Irak mehr als 30 Menschen bei Anschlägen. Das war nur eine kleine Meldung.

 

Es ist nicht die Zahl der Toten allein , die darüber entscheidet, wann in unserer Wahrnehmung ein Unglück zum Desaster wird, ein Angriff zum Albtraum, ein Anschlag zur Katastrophe. Und es ist nicht die räumliche Nähe zum Ort des Geschehens. Boston ist mehr als doppelt so weit von Stuttgart entfernt wie Damaskus, wo das Grauen bedeutend größer ist. Doch in Damaskus ist es ein tägliches Grauen, und es gehört zu den grausigen Erkenntnissen, dass die Aufmerksamkeit sinkt, je länger die Tragik andauert.

Mehr Menschen sterben durch Malaria als durch Bomben

Syrien ist da ja nur ein Beispiel von vielen. Durch fehlendes Essen, unsauberes Trinkwasser oder Malaria sterben jedes Jahr weit mehr Menschen als durch alle Bomben weltweit zusammen. Für sie ist es ein schleichender, ein stiller Tod. Er kommt hunderttausendfach, und er lässt sich an keinem konkreten Einzelereignis fest machen. Es gibt nur wenige Bilder, die das Leid dieser Menschen in die Welt hinaus transportieren. Das Maß an Aufmerksamkeit, das es erzielt, wird dem Ereignis in keiner Weise gerecht.

Doch von Boston gibt es Bilder. Rauch und Qualm, schluchzende Menschen, helfende Retter, blutverschmierte Gesichter. Alles ist da, in Sekundenschnelle. Von tausenden von Smartphones sofort ins Netz gestellt. Bilder, auf die manch ein Betrachter im Nachhinein wohl gerne verzichtet hätte. Redaktionen hatten schon immer die undankbare Aufgabe, zu entscheiden, wie viel Grausamkeit der Öffentlichkeit vermittelt und zugemutet werden kann, darf oder soll. Im Internet ist dieser Filter nun weitgehend aufgehoben. Fehlende Gliedmaße gibt es en masse und unretouchiert.

Erinnerungen an den 11. September

Bilder sind wichtig. Hätte es von dem Erdbeben, das gestern den Iran erschüttert hat, bessere Bilder gegeben, die Nachrichten über die Toten dort, über das Ausmaß der Zerstörung und das Leid wären deutlich größer ausgefallen. Aber auch die Bilder erklären nur zum Teil, warum die Ereignisse in Boston bei vielen von uns so viel Aufmerksamkeit wecken.

Es gibt da dieses Gefühl, dass so etwas wie in Boston auch vor der eigenen Haustür passieren könnte. Viel eher jedenfalls, als wenn die Bomben in Bombay, Bangkok oder Bamako explodiert wären. Amerika ist uns emotional ziemlich nahe, trotz der räumlichen Distanz. Bei aller Kritik im täglichen Politikbetrieb gibt es Parallelen im Denken und im Lebensstil. Und es gibt das Erschrecken über das gänzlich Unerwartete. Die Bomben sind da detoniert, wo das Leben tobt, da wo sich Kinder vergnügen, da wo niemand das Risiko so richtig ernst genommen hat.

Amerika ist uns emotional nahe

Und da ist schließlich diese Erinnerung an den 11. September 2001, die sich reflexhaft in den Vordergrund schiebt, wenn die Worte „Terror“ und „USA“ zusammenkommen. Diesen Reflex gibt es weit weniger bei „Terror“ und „Afghanistan“, was damit zusammen hängt, dass der Terror und Afghanistan inzwischen eine enge Dauerbeziehung pflegen, während in den USA das punktuelle Zusammentreffen überwiegt. Am Ende wird herausermittelt werden, ob Islamisten, rechte Wirrköpfe oder kolumbianische Drogenkartelle die Bomben von Boston gezündet haben. Doch das Ergebnis der Ermittlungen ist für eines egal: Bei jedem Vorfall dieser Art wird auch in Zukunft zunächst die Erinnerung an die Türme des World Trade Centers aufscheinen, und an die Menschen, die in ihnen ums Leben kamen. Es ist immerhin eine erfreuliche Entwicklung, dass viele – Politiker wie Medien gleichermaßen – erst einmal widerstanden haben, die Ereignisse ohne Erkenntnisse mit Al Kaida in Verbindung zu bringen – den Erinnerungen zum Trotz.

Der reflexhafte Gedanke an den September vor zwölf Jahren scheint weltweit zu bestehen. Von China bis Chile haben die Ereignisse von Boston die Schlagzeilen beherrscht, in Schweden und in Südafrika gleichermaßen die Nachrichten dominiert. Es gibt nicht viele Ereignisse, die das bewirken können.