Zunehmend aggressiv, regellos und unmotiviert – so nehmen Ehrenamtliche offenbar Kinder und Jugendliche in Stuttgarter Flüchtlingsunterkünften wahr. Professionelle Koordinatoren stellen in einem Brandbrief Forderungen auf.

Stuttgart - In den Flüchtlingsunterkünften in Stuttgart leben 6737 Menschen – fast die Hälfte ist jünger als 21 Jahre, 1117 sind jünger als sechs Jahre. In einem Brandbrief kritisieren Koordinatoren für ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingsarbeit, dass viele Unterkünfte beengt seien, es dort keine Lern-, Spiel-, Rückzugs- oder Entfaltungsräume gebe. Und auch „kaum Möglichkeiten, bedarfsgerechte Angebote für Gruppen oder Einzelne anzubieten“. Vielen Kindern fehle eine klare Alltagsstruktur, da sie weder in eine Kernzeitbetreuung noch in andere außerschulische Angebote eingebunden sind. Und: viele zeigten ein „zunehmend aggressives Verhalten – sowohl untereinander, als auch gegenüber Menschen, die zu ihrer Unterstützung da sind“, heißt es in dem Brief, der an Sozialbürgermeister Werner Wölfle (Grüne), die Kinderbeauftragte Maria Haller-Kindler, Jugendamtschefin Susanne Heynen und die Stadträte gerichtet ist. Auch der Jugendhilfeausschuss hat sich damit beschäftigt.

 

Kritik der Koordinatoren: Traumatisierte Kinder werden nicht ausreichend betreut

In dem Brief kritisieren die Koordinatoren unter anderem die unzureichende psychologische Beratung und Betreuung für Kinder mit Traumata oder anderen psychischen Problemen. Zudem gebe es „keine Stellen für Fachkräfte, die sich gezielt der Bedürfnisse und Nöte von Kindern und Jugendlichen in den Unterkünften annehmen können“. Bei den Ehrenamtlichen steige das Gefühl der Hilflosigkeit, viele hörten unzufrieden auf. „Auch aus unserer professionellen Sicht ist die Situation der Kinder in den Stuttgarter Flüchtlingsunterkünften kritisch“, schreiben die Koordinatoren, die zu den Wohlfahrtsverbänden gehören. Sie fordern ein stadtweites Konzept für diese Kinder – „und das zeitnah“. Stuttgart brauche hauptamtliche Strukturen, die durch bürgerschaftliches Engagement unterstützt werden.

Im Jugendhilfeausschuss berichtete Oliver Herweg vom Jugendamt, dass von den 474 Drei- bis Sechsjährigen aus den Unterkünften 60 Kinder noch keinen Kitaplatz haben, obwohl sie auf der Rechtsanspruchsliste stehen. Engpässe gebe es in Fasanenhof, Möhringen, Degerloch und Nord. „Wir haben hier noch keine Lösung“, so Herweg. Hinzu komme: „In 40 Gemeinschaftsunterkünften gibt es Spielräume, die nicht genutzt werden.“ Der Grund: „Wenn man die Räume dauerhaft öffnet, nehmen die Kinder das Spielzeug mit und vergessen, es wieder zurückzubringen“, erklärte Sozialamtschef Stefan Spatz. Deshalb suche man Schlüsselverantwortliche, die die Spielzimmer auf- und zuschließen: Flüchtlingsfrauen, aber auch Ehrenamtliche. „Das läuft ganz gut an“, so Spatz.

Sozialbürgermeister Wölfle zeigt sich vom Brandbrief überrascht

Zum Thema Wohnen erklärte er: „Wir werden die durch die Fluktuation frei werdenden Plätze nutzen, um Zug um Zug in allen 113 Flüchtlingsunterkünften in der ganzen Stadt den Wohnraum von 4,5 auf 7 Quadratmeter pro Person zu vergrößern.“ 3700 Flüchtlinge profitierten bereits davon. „Wir machen mehr, als wir müssten.“ Dies gelte auch für die Betreuung, so Spatz. Und: „Wir sind über die Heftigkeit dieses Briefs schon überrascht.“ Denn es gebe feste Kommunikationsstrukturen zwischen Ämtern und Trägern. Auch Bürgermeister Wölfle, in dessen Zuständigkeit die Unterkünfte fallen, zeigt sich verwundert: „Wir sind dauernd im Dialog“, versichert er. „Ich hätte erwartet, dass man erst mal miteinander spricht, statt Behauptungen aufzustellen.“ Denn die Verbände seien beauftragt, sich um Organisatorisches wie Spielzimmer zu kümmern.

Im Jugendhilfeausschuss hielten die Verbände die Füße still. Herweg berichtete, der Kontakt der Flüchtlinge zu Jugendhäusern und Vereinen sei kein Selbstläufer: „Das funktioniert nicht, diese Kinder und Jugendlichen kennen weder den Breitensport noch wissen sie, was ein Jugendhaus ist.“ Sieghard Kelle, Geschäftsführer der Jugendhausgesellschaft, berichtete aber, dass auch Flüchtlinge den Weg in die Jugendhäuser fänden. „Wir versuchen, Jugendliche, die die Sprache können, zu stabilisieren und als Brückenbauer einzusetzen. Es ist wichtig, dass diese Jugendlichen Vorbilder aus ihrem Kulturkreis haben.“

Jugendamt: Krisenberatung von Flüchtlingsfamilien immer stärker gefragt

Herwigs Jugendamtskollegin Barbara Kiefl berichtete, dass immer mehr Familien mit Kindern Krisen erlebten und Hilfe bei den Beratungszentren Jugend und Familie suchten. In 2017 seien es 397 gewesen, bis 24. September 2018 bereits 331. So habe ein Zehnjähriger nicht mehr nach Hause gewollt, weil der Vater ihn geschlagen habe. Eine 17-Jährige habe viel Gewalt durch den Vater erlebt, musste deshalb ins Krankenhaus, es gab ein Gerichtsverfahren, bei der Beratung gab es enorme Sprachprobleme, das Mädchen wurde anonym in einer anderen Stadt untergebracht. Eine Zwölfjährige habe Ärger mit den Eltern, weil sie sich außerhalb der Unterkunft umzieht und geschminkt mit kurzem Rock zur Schule geht. Es sei „wichtig, Vertrauen aufzubauen“, so Kiefl. Und: „Wir müssten zeitlich präsenter vor Ort sein, aber das schaffen wir aus personellen Gründen nicht.“ Heynen ergänzte, es gebe lange Wartezeiten für eine Psychotherapie und „sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Familienleben“. Sie schlug vor: „Wir brauchen niedrigschwellige Spielangebote, die durch Fachleute begleitet werden.“