Das Fußball-Testspiel an diesem Dienstag zwischen Deutschland und Brasilien in Berlin steht unter einem besonderen Stern. Die Südamerikaner haben immer noch an der 1:7-Schmach bei der WM im eigenen Land zu kauen.

Rio de Janeiro - Wen interessiert schon ein Rahmenterminkalender der Fifa? Während die Nationalelf Brasiliens an diesem Dienstag in Berlin versucht, einen Teil des historischen Fluches vom 1:7 gegen Deutschland zu vertreiben, kennt die erbarmungslose Fußballmaschinerie in der Heimat kein Erbarmen. Derzeit müssen die Mannschaften in den Bundesstaats-Meisterschaften ran. Gesucht werden unter anderem die Meister der Bundesstaaten São Paulo oder von Rio de Janeiro. Für den Klassiker Flamengo gegen Botafogo zieht der Gastgeber eigens ins Maracanã, so wichtig ist diese Partie. Und die Kneipen in Rio werden zum Bersten gefüllt sein – so wie damals, am 8. Juli 2014.

 

Die Schmach im WM-Halbfinale in Belo Horizonte hat sich tief ins kollektive Gedächtnis des ganzen Landes eingebrannt. „Die Wunde ist noch immer offen. Das 7:1 ist ein Gespenst“, sagt Nationaltrainer Tite, auch wenn er damals noch gar nicht dabei war. Das Testspiel in Berlin gehört ebenso zur Vergangenheitsbewältigung wie der randvolle Spielkalender in der Heimat. Er zeigt: auch nach der Stunde Null regiert in Brasilien König Fußball, der seine Profis fordert wie nirgendwo anders.

Im vergangenen Jahr absolvierte Flamengo durch seine Qualifikation für die beiden Finalspiele um die Copa Sudamericana insgesamt 83 Pflichtspiele. Zum Vergleich: die Vielspieler des FC Bayern kamen im gleichen Zeitraum gerade einmal knapp über 50 Pflichtspiele.

Die Spieler im Land werden verheizt

Nicht nur das zehrt an den Kräften des brasilianischen Fußballs, der sich auch in Pokalspielen auf regionaler und nationaler Ebene Hin- und Rückspiele gönnt. Spiele im Amazonas-Stadion von Manaus oder in Porto Alegre im Süden liegen fünf Flugstunden und unterschiedliche Klimazonen auseinander. Die Serie A, die erste brasilianische Liga, prügelt ihre 38 Spieltage trotzdem innerhalb von knapp sieben Monaten durch. Der deutsche Profi Alexander Baumjohann, der für den EC Vitoria in Salvador spielt, berichtete im Magazin „11 Freunde“ über die Auswirkungen dieses Fußball-Marathons: „Seit ich hier bin, spielen wir in diversen regionalen Pokalwettbewerben. Das heißt Spiele am Mittwoch und am Sonntag, jede Woche, immer wieder. Seit Anfang Februar hatte ich noch nicht einen Tag frei.“

Neben dem brutalen Pensum trifft den Vereinsfußball aber vor allem der personelle Aderlass. Jedes Jahr verlassen Hunderte von Profis das Riesenreich in alle Himmelsrichtungen. Jedes Jahr geht der Liga damit Substanz und Qualität verloren. Kaum ein Talent, das mit 18 oder 19 Jahren aus dem schier unerschöpflichen Fundus herausragt, bekommt die Zeit, sich in Ruhe zu entwickeln. Spielerberater und Clubmanager drängen auf schnelle Transfers, solange das Eisen noch heiß ist.

Von alledem ist die brasilianische Nationalmannschaft nur am Rande betroffen. Eine tief greifende Reform des Spielbetriebes, wie sie immer mal wieder kluge Köpfe fordern, ist nicht zu sehen. Vor allem Brasiliens TV-Sender Globo, ESPN Brasil oder Fox Sports machen mit dem Raubbau an den Profis Kasse und haben keinerlei Interesse daran, den Kalender einzudämmen. Fußball ist neben den Telenovelas das wichtigste TV-Produkt.

Die Talente zieht es nach Europa

Die Weiterentwicklung seiner besten Talente gibt der brasilianische Fußball ohnehin in fremde Hände. Ob Neymar, Gabriel Jesus oder Marquinhos – die Topkräfte, die Brasilien zu neuen WM-Titeln führen sollen, werden in Europa zu Superstars geformt. Das Niveau der brasilianischen Spitzenclubs Corinthians São Paulo oder Gremio Porto Alegre reicht nicht annähernd an das von Manchester, Paris oder Madrid heran.

Brasilien hat sich auf dieses Spiel eingelassen. Von den Massen an Profis, die ins Ausland gehen, müssen es ja nur zwei Handvoll in die Topclubs schaffen. Das kann aber auch schiefgehen. Die Generation nach Ronaldo und Rivaldo, die 2002 den letzten brasilianischen WM-Titel gewann, konnte dieses Niveau nicht halten. Wer erinnert sich noch an Robinho, der Mitte des vergangenen Jahrzehnts bei Real Madrid als kommender Jahrhundertspieler gefeiert wurde?

Von der Entwicklung der im Ausland tätigen Spieler ist Nationaltrainer Tite abhängig. Einfluss nehmen kann er praktisch nicht, der Kader für die Testspiele in Russland (3:0) und Berlin ist gespickt mit so vielen Legionären wie noch nie während seiner Amtszeit. Er profitiert davon, dass mit der Olympia-Generation von 2016 eine neue Ära anzubrechen scheint. In Rio gewann die von Neymar angeführte Auswahl Gold – durch einen Sieg gegen Deutschland im Elfmeterschießen. Es war nach der Blamage bei der Heim-WM zwei Jahre vorher ein Schritt zurück in die Normalität.

Gehen Neymar, Gabriel Jesus und Co. fit und gesund in die WM, wird Brasilien auch in Russland zu den großen Favoriten gehören. Es wäre der sechste Stern auf dem Trikot der Selecão. Und ein weiterer Grund, alles so weiterlaufen zu lassen wie bisher. Auch nach dem 1:7 gegen Deutschland.