Bundespräsident Joachim Gauck hat in São Paulo das Deutschland-Jahr eröffnet. Zu dem umfangreichen Kulturprogramm trägt auch der frühere Stuttgarter Generalmusikdirektor Lothar Zagrosek bei.

São Paulo - Jetzt können sie aufatmen, die Diplomaten und die Sicherheitsleute. Der Bundespräsident ist wieder in Berlin, sein Besuch in Brasilien ist ohne nennenswerte Pannen abgelaufen, und nun nimmt das Deutschland-Jahr in Brasilien seinen Lauf, das Joachim Gauck mit einem Festakt und einer feierlichen Rede unter wehenden Fahnen eröffnet hat. Ja, sicher, über vierhundert Kulturveranstaltungen, Kongresse, Seminare, Ausstellungen, das ist ein beeindruckendes Programm, wie Gauck sagte. Aber wie genau mag es die Brasilianer beeindrucken? Wie stellen sie sich Deutschland vor, und wie stellt sich ihnen Deutschland vor?

 

Für Renan Ferraz Galvão begann das Deutschland-Jahr mit ungewohnter Konzentration. „Ich hatte eine Woche lang von morgens bis abends nichts als Brahms im Kopf“, sagt der 22jährige Bratschist. Er gehört dem Young Euro Classic Orchester an, das, aus deutschen und brasilianischen Nachwuchs-Musikern geformt, das Eröffnungskonzert im ehrwürdigen Opernhaus von São Paulo bestritt. „Wir Brasilianer denken, deutsche Romantik – da müssen wir mit Kraft und Gewalt spielen“, sagt Ferraz, „aber die Deutschen haben eine ganz andere Konzeption von Dynamik“.

Lothar Zagrosek, der mit dem Jugendorchester die erste Brahms-Symphonie und die Ouvertüre des deutschesten aller deutschen Stücke, des Freischütz’, einstudiert hat, widerspricht da nicht. Die jungen Brasilianer seien weniger gewöhnt, im Orchester auf einander zu hören, und auch sicheres Gefühl für Rhythmus fehle ihnen, sagt der Dirigent, der zwischen 1997 und 2006 GMD in Stuttgart war. Sodass während der Proben „die berühmten deutschen Tugenden“ vorgeführt wurden: Neben der „fantastischen Organisation“ ein „ganz auf das Konzert gerichteter Proben-Rhythmus“. Denn „die Wertschätzung der Musik-Kultur, wie es sie in Deutschland gibt, die repräsentieren wir auch“, sagt Zagrosek: „Für Musiker ist Deutschland immer noch das Paradies, was Ausbildung angeht“.

„Fröhlich, aber kontrolliert“

Gauck hätte sich gefreut, wenn er gehört hätte, wie Ferraz Galvão die Deutschen fand: „Fröhlich, aber kontrolliert“. Denn dass die Deutschen zwar fleißige, aber eben auch verbissene bis verbiesterte Arbeitsbienen seien, die statt Lebenslust und Optimismus eher Selbstzweifel und Zukunftsängste kultivierten – dieses Bild der Deutschen von sich zu korrigieren ist dieses Jahr eine willkommene Gelegenheit.

Das Land sei „offener, internationaler und gelassener“ geworden, sagte Gauck, und das seien „gute Voraussetzungen, andere mit Warmherzigkeit zu empfangen“. Wer aus dem Ausland zurzeit nach München und auf den NSU-Prozess schaut, wird da nur sehr, sehr zögernd zustimmen. Zwischen der Realität und ihrer Darstellung aus offiziellem Anlass dürfte sich wohl immer eine Kluft auftun, egal wo auf der Welt. Aber im Falle Deutschlands ist es eben immer der bodenlose Abgrund der Vergangenheit.

Fröhlich, aber kontrolliert – ja, so hätten wir’s gern, und da schmunzelt man gerne mit, wenn der Bundespräsident als Beweis für die engen Beziehungen amüsiert anführt, dass junge Brasilianer VW für eine brasilianische Traditionsmarke halten. Deutschland-Jahre werden in erster Linie veranstaltet, um Deutschlands Rang als ökonomische Großmacht zu verteidigen, und kontrollierte Fröhlichkeit ist genau die Gemütslage, in der man gute Geschäfte mit aufstrebenden Wirtschaftsgroßmächte wie Brasilien macht – China, Indien, Russland waren schon dran – und sich zugleich als moderne Kulturnation darstellt.

Der Wurstverzehr der Deutschen

Natürlich kommt man nicht um die Klassiker herum, nicht um den Freischütz, nicht um Wagner. Nicht um Brecht und nicht ums Bauhaus, das in Brasilien stets Aufmerksamkeit findet. In São Paulo verwandeln sich jedoch Hochhaus-Fassaden in digitale Galerien deutsch-brasilianischer Medien-Kunst. Das Goethe-Institut schickt eine interaktive Kultur-Galerie in Form eines Lastwagens durch die Provinz, inklusive Kino, Literatur, Comics, HipHop. Eine Wanderausstellung „Deutschland für Anfänger“ widmet sich unter anderem dem hochinteressanten Problem, wie viele Würste der Deutsche pro Jahr isst, verspricht aber auch Antwort auf die ungelöste Frage, wie die Deutschen zu ihrer Vergangenheit stehen. Und das Goethe-Institut lässt verschärft über einen binational interessierenden Aspekt kontrollierter Fröhlichkeit nachgrübeln: Den Fußball.

Der solide Mittelstand, das duale System der Berufsausbildung, Deutschlands Universitäten, die Energiewende, das sind die Schaustücke deutscher Selbstdarstellung im Grenzgebiet von Wissenschaft und Wirtschaft. Wobei sich die deutsche Fotovoltaik-Anlage auf dem Fußballstadion von Belo Horizonte schöner präsentiert als die Zulieferungen, die Brasilien für seinen neuen Atommeiler oder für seine höchst umstrittenen Wasserkraftwerke bei Firmen aus Deutschland bestellt.

All das richtet sich an ein bürgerliches, bereits sensibilisiertes Publikum, sofern es nicht mehr oder weniger direkt auf potenzielle Kunden zugespitzt ist – und das Volk? Die Abermillionen von Brasilianern, die mit Deutschland kaum mehr als viel Bier verbinden, das viel zu warm getrunken wird? Die Versuche, sich ihnen zu nähern, sind bisher im Dickicht der brasilianischen Alltagsbespaßung verloren gegangen. Dass die Christus-Statue in Rio de Janeiro in Schwarz-Rot-Gelb angestrahlt wurde, fanden vor allem die Deutschen bemerkenswert. Das „zauberhafte Deutschland“ als Thema einer Sambaschule im Karneval von Rio, das war vor dem offiziellen Beginn des Deutschland-Jahres und ist inzwischen angemessen vergessen. Eine Chance gibt es natürlich, dass alle zweihundert Millionen Brasilianer gebannt auf die Deutschen starren: Am 13. Juli 2014, beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft. Aber da ist das Deutschland-Jahr in Brasilien längst um.