Spektakuläre Bühnenbilder bot die Seebühne schon oft. Doch die neue Produktion „André Chénier“ lässt selbst langjährige Fans staunen.

Bregenz - Nicht zu übersehen ist der mächtige, vierundzwanzig Meter aus dem Wasser aufragende Männertorso am Bregenzer Ufer. Je näher man ihm an der Promenade kommt, desto mehr befällt einen der Gedanke, diesen Anblick von irgendwoher zu kennen. Leicht nach hinten hängt der turbanartig bedeckte Riesenkopf. Er allein schon ist vierzehn Meter hoch und rund sechzig Tonnen schwer. Schultern und Brust des Mannes sind nackt. Eine davor aus den Fluten gereckte Hand hält einen Brief. Das berühmte Gemälde "Der Tod des Marat" von Jacques-Louis David hat hier Pate gestanden und macht den Bodensee an dieser Stelle quasi zur Badewanne.

 

Der Bühnenbildner David Fielding hat das Bild des französischen Revolutionsmalers in eine beeindruckende dreidimensionale Skulptur verwandelt. Aus dem See kann ein turmhohes Messer heraufgeklappt werden, das dann aufrecht in der Brust des Toten steckt. Links vor der Figur sieht man in halber Höhe ein aufgeklapptes Buch, das ebenso als Spielfläche dient wie der tiefer liegende Brief in der erwähnten Hand, die später im Wasser bis an den rechten Rand der Szenerie fährt. Darüber wölbt sich der Goldrahmen eines Rundspiegels von kolossalen Ausmaßen.

Schon diese Kulissen würden genügen, um eine Vorstellung auf der größten Seebühne der Welt zum unvergesslichen Erlebnis zu machen. Und dann ist da ja noch die Natur, die immer mitwirkt, wenn unter freiem Himmel gespielt wird. Wer das Glück hat, bei den Bregenzer Festspielen einen lauen Sommerabend zu erwischen, wird die gigantischen Bühnenkulissen und das umgebende Panorama in bester Erinnerung behalten. Die Kehrseite dieser Konstellation ist freilich, dass man bei zweifelhafter Witterung bangen muss, ob die Vorstellung bis zum Ende gespielt wird.

Selten gab es vor der Eröffnung einen solchen Temperatursturz

Selten hat es jedoch zur Eröffnung des Festivals einen solchen Temperatursturz gegeben wie jetzt vor der Premiere von Umberto Giordanos Revolutionsoper "André Chénier". Die Frage war nicht, ob das Wetter hält, sondern vielmehr, ob Dauerregen und kalter Wind wirklich abends aufhören oder zumindest nachlassen, wie die Vorarlberger Vorhersage behauptete - während Wetterstationen in Süddeutschland und der Ostschweiz noch am späten Nachmittag für Bregenz das Gegenteil in Aussicht stellten. Doch pünktlich zum Premierenstart verzogen sich die Regenwolken. Bis zum Ende der zweistündigen Aufführung blieb es trocken.

Anderes gilt offenbar für die mutige Entscheidung des Intendanten David Pountney, diesmal eine weniger bekannte Oper auf der Seebühne zu präsentieren. Da mag es hinter den Kulissen Zweifel gegeben haben, ob der selten gespielte Vierakter des Puccini-Zeitgenosen Giordano über den historischen verbürgten Dichter André Chénier dieselbe Zugkraft entwickeln wird wie Opernhits von Verdi oder Puccini. Nicht von ungefähr dürfte als nächste Seeproduktion Mozarts unverwüstliche "Zauberflöte" die Zeit nach Pountney einleiten.

Giordanos Meisterwerk wurde 1896 uraufgeführt

Giordanos Meisterwerk, das 1896 in der Mailänder Scala uraufgeführt wurde, bietet indessen musikalisch Verismo erster Güte und szenisch eine packende Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der französischen Revolution mit allen Ingredienzen, die eine Breitwand-Oper braucht. Für Pountney ist das Stück, dessen Titelpartie Tenöre wie Caruso oder Domingo geschätzt haben, wie speziell für die Bregenzer Seebühne komponiert. Die Wiener Symphoniker, der Prager Philharmonische Chor, der Bregenzer Festspielchor und die hervorragenden Solisten geben hier unter der Leitung von Ulf Schirmer ihr Bestes für die leidenschaftliche Musik.

Das Libretto von Luigi Illica, der auch für Puccini gedichtet hat, stellt den Chénier zunächst als Idealisten dar, der in den letzten Jahren des Ancien Régime für die Sache des Volkes ebenso schwärt wie für Maddalena, die Tochter einer Gräfin. Neben dem Diener Gérard wird er zum glühenden Anhänger der Revolution, nach Terror und Willkür jedoch zu ihrem Kritiker. Ein Freund möchte ihm bei der Flucht behilflich sein, aber ein Treffen mit der verarmten Maddalena, die ihn um Hilfe anfleht, gerät beiden schließlich zum Verhängnis.

Der Regisseur Keith Warner zieht alle Register spektakulärer Effekte

Der Regisseur Keith Warner zieht alle Register spektakulärer Effekte. Die von Constance Hoffman (Kostüme) als Perückenmonster karikierten Adligen tanzen Gavotte auf dem Vulkan und lassen sich von einem Akrobatenballett in schwindliger Höhe auf dem anfangs noch verhüllten Kopf des Marat unterhalten. Vierzehn Techniker sind nötig, um den tausend Quadratmeter großen Stoff, der halb an eine teure Rokokotapete, halb an ein Leichentuch erinnert, in Sekundenschnelle geräuschlos nach hinten wegzuziehen. Später werden Delinquenten hoch oben im Spiegel gehenkt. Schwarz wie Raben gekleidete Spione seilen sich aus den giftgelb leuchtenden Augen Marats ab. Stuntmen springen von dessen Schultern in den See.

Bei der Gerichtsverhandlung klappt der Riesenschädel nach hinten und gibt in der klaffenden Halswunde den Blick frei auf Bücherstapel, welche die Gedanken des Dichters symbolisieren. Am Ende wachsen meterlange Stacheln wie eine Dornenkrone aus Stirn und Körper des Torsos. Sollen sie auch an die Freiheitsstatue mahnen? Chénier und Maddalena (sensationell bei der Premiere: Héctor Sandoval und Norma Fantini) haben den Glauben an die Ideale der Revolution verloren. Vor ihrer Hinrichtung werfen sie die Lettern von "Liberté" ins Wasser. Ein großes Finale.

Weitere Vorstellungen: von "André Chénier" auf der Bregenzer Seebühne fast täglich bis zum 21. August

Festspielanleitung

Wetter: Bei den Bregenzer Festspielen wird nach Möglichkeit auch bei zweifelhafter Witterung auf der Seebühne gespielt. Es kann so zu verzögertem Beginn oder Unterbrechungen kommen. Bei schlechtem Wetter kann das Spiel auf dem See abgebrochen werden. Tritt dies eine Stunde nach Beginn der Vorstellung oder später ein, dann verfallen Karten, die nur für die Seebühne gelten, ohne Anspruch auf Regress. Besitzer sogenannter Hauskarten können den Rest im Festspielhaus verfolgen.

Kleidung: Es empfiehlt sich stets, den auf den Tickets abgedruckten Ratschlag zu beherzigen und warmer, regensicherer Kleidung den Vorzug zu geben. Schirme sind nicht erlaubt, Decken und Capes können geliehen werden. 

Karten und weiteres Programm www.bregenzerfestspiele.com