Er ist keine attraktive Visitenkarte der Stadt: Nach Ansicht vieler Menschen aus Esslingen und auch von Besucherinnen und Besuchern sind der Bahnhof und sein direktes Umfeld von einer Wohlfühlatmosphäre weit entfernt. Der Jugendgemeinderat wollte nun dezidiert von jungen Menschen wissen, wie sie zu dem alt bekannten Problem stehen. Ein Ergebnis der Online-Umfrage: Auch Jugendliche gehen auf Distanz zu dem Esslinger Schmuddelkind Nummer Eins.
Esslingen stehe in einem Zwiespalt, erklärt der Sozialbürgermeister Yalcin Bayraktar den Hintergrund des Bahnhofsproblems. Die Neckarstadt peile einerseits die 100 000-Einwohner-Marke an, wolle Großstadt sein und Großstadt-Flair versprühen und mehr Veranstaltungen auch für junge Leute bieten. Andererseits könne dann kein dörflicher Charakter erwartet werden. Beides zusammen gehe nicht. Bahnhöfe seien Knotenpunkte, es herrsche ein Kommen und Gehen, zigtausende Menschen würden hier aufeinandertreffen – da könne es zu Konflikten kommen, so Bayraktar. Die aber wollten die Verantwortlichen im Rathaus nicht hinnehmen.
Betrunkene und Schlägereien
Handeln tut auch not. 70 Prozent der Mädchen und Frauen sowie 71 Prozent der Jungen und Männer, die an der Umfrage des Jugendgemeinderats teilgenommen haben, hatten auf dem Esslinger Bahnhofsplatz schon einmal ein Erlebnis, bei dem sie sich unsicher oder unwohl gefühlt haben. Vor allem drei Problemfelder machte ein Großteil der 1346 Befragten aus, erklärten die Jugendgemeinderäte Lotta Raven und Christian Spiegel bei der Präsentation des Umfrage-Ergebnisses: Offenen Alkoholkonsum und Betrunkene empfanden 82 Prozent als unangenehm, schreiende und laute Menschen störten 74 Prozent. Schlägereien und Prügeleien führten bei 55 Prozent zu Unsicherheit.
Weitere Punkte waren Drohungen, rassistische Kommentare, das offene Tragen einer Waffe oder Diebstähle. „Von sexueller Belästigung, Nachpfeifen, Anstarren oder Nachschauen berichten 25 Prozent der Befragten – unabhängig vom Geschlecht“, erklärt Lotta Raven.
Die Problematik ist Yalcin Bayraktar bekannt. In der von Wissenschaftlern der Universität Tübingen 2022 verfassten Untersuchung zum Bahnhof würden 70 Gegenmaßnahmen genannt, die in den nächsten ein bis fünf Jahren zu einer Entschärfung der Situation beitragen könnten. Von diesen aufgezählten Gegenmitteln seien 19 Prozent umgesetzt worden, 36 Prozent seien bereits angestoßen worden. Die Einsätze des Kommunalen Ordnungsdienstes seien ausgeweitet und in der Unterführung sei eine ansprechende Wandgestaltung angebracht worden, erklärt der Sozialbürgermeister. Zudem habe die Bahn für mehr Sauberkeit gesorgt. Darüber hinaus gelte ein Alkoholverbot – im vergangenen Jahr seien 309 Verstöße geahndet worden. Demnächst sollen ferner Hinweisschilder aufgestellt werden, dass für Radfahrer Schrittgeschwindigkeit gilt. Und schließlich gebe es eine Projektgruppe zum Bahnhof, die sich regelmäßig treffe. Weitere Maßnahmen seien in der Pipeline.
Mehr Polizei und mehr Kameras gewünscht
Doch die Teilnehmenden an der Umfrage des Jugendgemeinderats wollen mehr. Mehr Überwachung und Kontrollgänge von Polizei und Sicherheitspersonal, eine bessere Beleuchtung, Überwachungskameras sowie eine bessere Einsicht in die Unterführung und den hinteren Teil des Bahnhofsareals hielten sie für sinnvoll. Angeregt werden auch Notrufsäulen, eine zentrale Ansprechstelle für Sicherheitsfragen, das Einrichten von Aufenthaltszonen und Wartebereichen sowie Spiegel in der Unterführung. Nur zwei Prozent waren der Meinung, es müsse nichts gemacht werden.
Bei ihren Gesprächen im Zusammenhang mit der Umfrage, ergänzt Christian Spiegel, sei den Jugendgemeinderäten immer wieder mitgeteilt worden, dass Passagiere den Bus ein, zwei Haltestellen vor dem Bahnhof verließen, um das auf dem Platz ausgemachte Konfliktpotenzial zu umgehen. Gerade in Zeiten, in denen heftig über eine Belebung und Aufwertung der Esslinger Innenstadt diskutiert werde, seien solche Botschaften nicht zielführend. Ein Handeln mit Blick auf den Bahnhof käme nach Ansicht des Jugendgemeinderats auch der Altstadt zu Gute.
Die Umfrage des Jugendgemeinderats zum Esslingen Bahnhof
Methode
Über einen Online-Fragebogen wollte der Esslinger Jugendgemeinderat die Meinung vor allem junger Menschen zum Bahnhof ermitteln. 101 leere und 174 unvollständig ausgefüllte Fragebögen wurden aussortiert, doch die Antworten von 1346 Menschen konnten in das Ergebnis einfließen und verwertet werden.
Befragte
Von den Befragten waren 42 Prozent männlich, 54 Prozent weiblich und vier Prozent divers. 29 Prozent der Teilnehmenden an der virtuellen Befragung waren jünger als 16 Jahre, 33 Prozent waren zwischen 16 und unter 18 Jahre alt, und 16 Prozent zählten 18 bis unter 21 Jahre. 22 Prozent waren älter als 21 Jahre.
Sicherheit
Laut der Umfrage nimmt ab 18, spätestens ab 20 Uhr der Anteil derer deutlich zu, die sich am Esslinger Bahnhof unsicher und unwohl fühlen. Je später die Uhrzeit, desto unangenehmer werde das Gefühl. Mädchen und Frauen fühlten sich aber zu jeder Uhrzeit unsicherer als Jungen und Männer.