Newcastle ist eine Hochburg der Brexit-Befürworter. Die sind für gute Argumente nicht immer empfänglich.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Newcastle - Mark Hudson kämpft. Seit Tagen zieht er für den Verbleib Großbritanniens in der EU werbend durch Nordengland, im Moment ist sein Feind aber der Wind. Mit einigen Kollegen hat der 46-Jährige am Morgen einen kleinen Stand am Fuße von Grey’s Monument im Stadtzentrum von Newcastle aufgebaut. Nichts Aufwändiges: ein Campingtischchen, ein kleines Transparent und einige Packen Flugblätter. Doch immer wieder müssen sie ihrem Infomaterial hinterher spurten, das von den bissigen Nordseeböen quer über den Platz getragen wird. „So ist das in Großbritannien“, sagt er entschuldigend, „ständig passiert etwas Unvorhergesehenes.“ Die Passanten nehmen von Mark Hudson kaum Notiz, nur wenige kann er in ein Gespräch verwickeln. „Die meisten Leute wissen schon, was sie am Donnerstag abstimmen werden“, sagt er. In Newcastle hat sich der Vertreter der Unite Trade Union, mit rund 1,5 Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft auf der Insel, in die Höhle des Löwen gewagt. Die Region ist eine Hochburg der Brexit-Befürworter. Laut Umfragen werden hier weit über 50 Prozent für den Austritt aus der EU stimmen. Warum das ist, wird bei einem Gang durch die Stadt mehr als deutlich.

 

Die vielen schicken Häuser in Newcastle verraten den ehemaligen Glanz und den Reichtum der Stadt. Der bröckelnde Putz an den Fassaden, die verwaisten Einkaufspassagen und die zahlreichen leeren Shops in der Fußgängerzone lassen erahnen, dass die guten Zeiten vorbei sind. Schiffswerften, Steinkohlebergbau und Schwerindustrie – alles hat dicht gemacht in den vergangenen Jahrzehnten. Zuletzt hatten sich viele Ölfirmen in Newcastle angesiedelt, das strategisch günstig an der Nordsee liegt. Doch seit dem Verfall des Ölpreises ist auch damit kein Geld mehr zu machen.

„Das Problem ist nicht nur, dass wir ein aktuelles Problem haben“, umschreibt eine Mitarbeiterin der Stadtverwaltung die Lage. „Besorgniserregender ist die Zukunftsperspektive.“ Sie sollte eigentlich nichts sagen, weil der zuständige Beamte gerade nicht da ist, redet sich dann aber doch ihren Frust von der Seele. Die Arbeitslosenrate ist vor allem bei den jungen Menschen in Newcastle seit Jahren konstant hoch. Bei den 16 bis 24-Jährigen liegt sie bei 25 Prozent. Viele Schulabgänger finden keinen Job, weil es in der Region schlicht keine Unternehmen mehr gibt, die qualifizierte Jobs anbieten. Der Dienstleistungssektor ist einer der großen Arbeitgeber, aber dort sind die Stellen oft schlecht bezahlt. Die Stadt versucht, mit verschiedenen Programmen gegen die nicht enden wollende Misere anzukämpfen. „Aber wir produzieren einen hoffnungslosen Jahrgang nach dem nächsten“, sagt die Frau.

Viele Menschen in Newcastle sind für den Brexit

„Es sind die Immigranten, die unser System ruinieren“, poltert Peter. Seit Jahrzehnten arbeitet er auf dem Bau. „Ich habe mir mein Leben immer hart verdient“, sagt er und zeigt seine schwieligen Hände, „aber nun kommen immer mehr Leute, die es sich in unserem Sozialsystem bequem machen.“ Es ist keine Überraschung, dass er am Donnerstag für den Brexit votieren wird. Dass den Briten in Sachen Sozialleistungen für EU-Bürger zuletzt zahlreiche Konzessionen gemacht wurden, will er nicht hören. „Zu viel ist zu viel“, sagt Peter. Und dann seien da ja noch die Türken. „Wenn die erst in der EU sind, kommen die auch noch zu uns.“ Das ist eines der Argumente der Brexit-Befürworter, die den Briten erklären, dass der EU-Beitritt der Türkei unmittelbar bevorstehen würde. Dass das nicht der Fall sein wird, will er auch nicht glauben. Er versichert noch einmal mit allem Nachdruck: „Ich will, dass wir austreten!“ „Es ist schändlich, dass die Brexit-Leute sich nicht an die Fakten halten, sondern mit Ängsten operieren“, empört sich Mark Hudson. „Wo wären wir denn ohne die EU?“ fragt er. Die Regierung habe in den vergangenen Jahren immer nur gespart, das habe vor allem die ärmeren Leute getroffen. Die meisten Investitionen seien gerade im Norden vor allem von der EU gekommen.

Was den Gewerkschafter frustriert, ist, dass viele Menschen in Newcastle und der Umgebung für den Brexit sind, obwohl die wenigen großen Arbeitgeber in der Region wollen, dass die Briten in der EU bleiben. In Sunderland, nur einige Metro-Stationen von Newcastle entfernt, unterhält der Autobauer Nissan eine Fabrik mit 6000 Angestellten.

Die Brexit-Leute lassen sich durch Zahlen nicht beeindrucken

Man halte sich gewöhnlich aus politischen Fragen heraus, heißt es dort, doch wegen der ungewöhnlichen Situation hat Europa-Chef Paul Willcox in diesen Tagen eine bemerkenswerte Ausnahme gemacht. „Wir haben eine kristallklare Position. Als Weltkonzern mit einer starken Präsenz in Europa, bevorzugen wir es, dass Großbritannien in der Europäischen Union bleibt.“ Und Willcox spricht in diesem Fall nicht nur für sein Unternehmen. Der Dachverband der britischen Automobilbauer lässt die Brexit-Befürworter wissen, dass an der Autoindustrie in Großbritannien rund 800 000 Jobs hängen und dadurch jedes Jahr über 15 Milliarden Pfund (über 19 Milliarden Euro) zur heimischen Wirtschaft beigetragen werden. 80 Prozent der Exporte gehen ins Ausland, heißt es weiter, davon 40 Prozent in die EU.

Aber der Straßenkämpfer Mark Hudson weiß, dass sich die Brexit-Leute durch Zahlen wenig beeindrucken lassen. „Die glauben der Anti-EU-Propaganda, dass der Handel mit China uns nach dem Austritt reich macht“, sagt der Gewerkschafter. „Was sie nicht wissen: das Handelsvolumen mit dem kleinen Holland ist doppelt so hoch wie das mit China.“ Hudson ist überzeugt, dass viele seiner Landsleute noch immer in der Vorstellung leben, dass Großbritannien ein mächtiges und einflussreiches Weltreich ist. „Ich hoffe, dass das Erwachen aus diesem Traum nicht allzu böse wird.“