Ein Brexit könnte die Anti-EU-Stimmung in anderen Ländern anheizen. Schon heute ist die Zustimmung zur EU in Frankreich niedriger als im Vereinigten Königreich, sagt Martin Lück, Kapitalmarktstratege beim Vermögensverwalter Blackrock.

Frankfurt - Vor der Abstimmung der Briten über den möglichen EU-Austritt sind die Sorgen auch im deutschen Finanzzentrum groß. Martin Lück hat als Chef-Kapitalmarktstratege für Deutschland, Österreich und Osteuropa des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock tiefen Einblick in die Branche. Ein Brexit könnte die Anti-EU-Stimmung in anderen EU-Ländern beflügeln, warnt der Finanzexperte.

 
Herr Lück, was bedeutet ein Brexit für den Kapitalmarkt?
Nichts Gutes. Wenn das Ergebnis der Abstimmung am 24. Juni morgens bekannt wird und sich die Briten für den EU-Austritt entschieden hätten, würden sich Investoren sofort aus britischen und europäischen Aktien zurückziehen, wenn sie es nicht schon getan haben. Worauf die schlechte Entwicklung an der Börse zuletzt hinweist. Die Kurse würden in Frankfurt weiter abrutschen. Die Märkte würden in den Tagen und Wochen danach vermutlich weiter absacken.
Trifft Deutschland ein Brexit auch wirtschaftlich?
Ja. Europa insgesamt würde leiden. Deutschland als stärkste Volkswirtschaft vermutlich am stärksten. Hier ist ein großer Markt für britische Produkte. Das gilt auch umgekehrt. Großbritannien war zudem ordnungspolitisch immer ein Verbündeter. Das Land tickt als Marktwirtschaft ähnlich wie Deutschland. Länder im Süden Europas und Frankreich sind eher zentralistisch ausgerichtet. Der Einfluss Deutschlands in Europa würde beim Brexit sinken.
Langfristig wäre der Austritt auch schlecht?
Sicher. Deutschland ist ein stark auf den Export ausgerichtetes Land. Aus Sicht von Investoren würde diese Orientierung durch den Brexit geschwächt. Das wäre für längere Zeit auch an der Börse und bei deutschen Aktien spürbar. Stärker als in anderen europäischen Ländern.
Andererseits würde vermutlich die Flucht in sichere Häfen beschleunigt. Bundesanleihen wären noch stärker gefragt.
Ja. Die Zeiten negativer Renditen könnten noch länger andauern. Stark gefragt wären auch US-Staatsanleihen. Gleiches gilt für klassische Kriseninstrumente, wie etwa Gold.
Was passiert mit dem Euro?
Er würde unter Druck geraten, auch das britische Pfund. Investoren würden beiden Währungen das Vertrauen entziehen und verstärkt auf den Dollar setzen. Kapital würde aus Europa abgezogen und möglicherweise wieder Richtung Schwellenländer umgelenkt.
Kommt es zur Parität, also Euro und Dollar auf Gleichstand?
Der Brexit wäre ein so dramatisches Ereignis, dass es nicht nur für den Euro, sondern auch für das Pfund auf die Parität zum Dollar hinauslaufen könnte.
Wenn sich die Briten für den Verbleib in der EU entscheiden, boomen die Kapitalmärkte?
Einen Boom nicht, aber es würde eine Erleichterungsrallye mit steigenden Kursen und einer Aufwertung von Pfund und Euro geben. Die Renditen der Bundesanleihen würden steigen. Großbritannien würde für Investitionen wieder interessant. Die für die Insel derzeit auf Rot stehende Risikoampel würde auf Grün springen.
Wie reagiert Blackrock selbst auf einen Brexit? Wie hat sich Ihr Unternehmen vorbereitet?
Wir versuchen unsere Kunden entsprechend zu beraten. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Auch nicht zu möglichen Verlagerungen von Einheiten von London nach Frankfurt.
Aber allgemein vielleicht: Würde Frankfurt von einem Brexit profitieren?
Einige Finanzfirmen müssten eine stärkere Präsenz auf dem Kontinent aufbauen, um den Marktzutritt zu behalten. In London würde ihnen beim Brexit der dafür notwendige EU-Pass fehlen. Das spricht für Frankfurt. Selbst wenn nur zwei Prozent der Jobs der Finanzbranche an der Themse an den Main kämen, würde sich die Belegschaft in Frankfurt im Bankensektor um 20 Prozent erhöhen. London ist schließlich als europäisches Finanzzentrum 20 Mal größer als Frankfurt.
Also können sich die Frankfurter zurücklehnen?
Nein. Schließlich muss man die negativen Effekte eines Brexits für die Finanzmärkte und für die deutsche Wirtschaft gegenrechnen. Die Finanzbranche in Frankfurt müsste möglicherweise schrumpfen, Banken viele Jobs streichen.
Deutsche Börse und Londoner Börse wollen fusionieren. Ist das Projekt durch den Brexit gefährdet?
Zu einzelnen Unternehmen äußert sich Blackrock nicht.
Der Brexit kommt nicht von heute auf morgen. EU und London werden mindestens zwei Jahre lang über die Bedingungen verhandeln. Wird es ähnliche Vereinbarungen wie mit Norwegen und der Schweiz geben?
Das Modell Norwegen ist schwierig, weil das Land in die EU einzahlt und Teil der Freihandelszone ist, aber kein Mitspracherecht hat. Das wäre für die Briten die schlechteste aller Welten. Die Schweiz passt auch nicht, weil bei den Verträgen mit der EU Finanzdienstleistungen außen vor sind. Das ist für London keine Option.
Gefährdet ein Brexit die gesamte EU?
Die Gefahr ist vorhanden. Aber der Austritt eines Landes ist ein einmaliger Vorgang. Viel hängt davon ab, wie es den Briten ergeht. Erblüht das Land, könnte das die Stimmung gegen die EU in anderen Ländern beflügeln. Zur Erinnerung: Die Zustimmung zur EU in Frankreich ist heute schon niedriger als im Vereinigten Königreich.

Das Gespräch führte Rolf Obertreis