Nach der Verschiebung der Brexit-Entscheidung im britischen Parlament ist die Lage verworren. Kommt nun der gefürchtete chaotische Brexit - oder findet sich doch noch ein Ausweg?

Brüssel/London - Wegen der massiven Widerstände gegen ihre Brexit-Lösung hat die britische Premierministerin Theresa May am Dienstag eine hektische Rettungsmission durch halb Europa gestartet, auch zu Kanzlerin Angela Merkel nach Berlin. Der Hoffnung auf Nachbesserung des Austrittsvertrags erteilte die EU aber eine klare Absage. Bestenfalls „Klarstellungen und Interpretationen“ seien denkbar, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Nun wächst wieder die Furcht vor einem Chaos-Brexit in nur drei Monaten.

 

May hatte wegen einer drohenden Niederlage die für Dienstagabend geplante Abstimmung im britischen Parlament über ihr mit der Europäischen Union vereinbartes Brexit-Paket verschoben. Stattdessen kündigte sie an, weitere „Zusicherungen“ der EU zu erreichen und so die Bedenken im Unterhaus auszuräumen.

Am Morgen traf sie zunächst den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte in Den Haag, vor weiteren Stationen bei Merkel in Berlin und bei EU-Ratschef Donald Tusk und Juncker in Brüssel. Rutte sprach mittags auf Twitter von einem „nützlichen Gespräch“, nannte aber keine Details.

Das Ziel ist ziemlich unklar

Auch was May konkret erreichen will, blieb nach ihrer Ankündigung am Montagabend vage. Hauptstreitpunkt in Großbritannien ist die Garantie für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland, der sogenannte Backstop. Konservative Brexit-Befürworter fürchten, dass die im Austrittsvertrag vorgesehene Lösung Großbritannien nach dem Brexit auf Dauer eng an die EU bindet. Sie wollen eine Befristung. Das hatte die EU aber stets abgelehnt mit der Begründung, eine Garantie könne nicht befristet sein.

Juncker bekräftigte im Europaparlament in Straßburg, dass eine Änderung des Backstops für die EU ausgeschlossen sei. „Er ist nötig, nötig für das gesamte Paket dessen, was wir mit Großbritannien verhandelt haben, und nötig für Irland“, sagte der Kommissionschef und stellte klar: „Jeder muss wissen, dass der Austrittsvertrag nicht noch einmal aufgemacht wird.“

Gleichwohl signalisierte er etwas Entgegenkommen: „Aber natürlich gibt es Spielraum, wenn man den intelligent nutzt, es gibt genug Spielraum, um weitere Klarstellungen und weitere Interpretationen zu geben, ohne das Austrittsabkommen noch einmal aufzumachen.“ Die EU könnte May nach Darstellung von Diplomaten in einer gesonderten Erklärung zusichern, dass man gemeinsam alles versuchen werde, die Backstop-Notfalllösung niemals anzuwenden.

Ob der Backstop gebraucht wird, hängt von den künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien ab. Diese sollen erst in einer Übergangsphase nach dem für den 29. März 2019 vorgesehenen Austritt ausgehandelt werden. Findet man eine Alternative für eine offene Grenze auf der irischen Insel, käme der Backstop nicht zum Tragen. Die EU wollte aber die Garantie unbedingt, weil die bisherigen britischen Ideen der künftigen Partnerschaft noch keine solche Lösung erkennen lassen.

Abgeordnete zeigen sich zunehmend entnervt

In der Debatte im Europaparlament zeigten sich Abgeordnete zunehmend entnervt und ungeduldig wegen der politischen Blockade in London. EVP-Fraktionschef Manfred Weber klagte: „Wir haben schon zu viel Zeit verloren.“ Sein sozialdemokratischer Kollege Udo Bullmann kritisierte, dass May weder Parlament noch das Volk entscheiden lasse. Der liberale Brexit-Beauftragte des Parlaments, Guy Verhofstadt, sagte: „Wir sind in ein neues Durcheinander getrudelt.“

Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok meinte aber, dass Mays Gespräche in Europa ihr vielleicht doch helfen könnten, Zustimmung im Unterhaus zu bekommen. Vielleicht könne man klarstellen, dass der Backstop kein „böser Trick der EU sei“. Dennoch halte er einen harten Brexit ohne Deal zunehmend für wahrscheinlich. „Das Problem ist, dass wir in Großbritannien keinen Partner haben“, sagte Brok.

Auch Europastaatsminister Michael Roth warnte in Brüssel: „Die Zeit läuft aus. Das wissen alle Beteiligten.“ Das britische Parlament werde bald Weihnachtspause machen und erst im Januar zurückkehren. „Wir müssen uns auf alles vorbereiten - nach wie vor auf einen harten Brexit, den am Ende ja niemand will“, sagte der SPD-Politiker.

Die 27 bleibenden EU-Länder stehen allem Anschein nach geschlossen hinter der Linie der EU-Kommission, die das Verhandlungsmandat hat. Auch in der deutschen Innenpolitik herrscht vor allem Kopfschütteln über Großbritannien. FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff nannte die Lage dort im MDR „absurdes Theater“. Grünen-Europaexpertin Franziska Brantner sprach von „Brexit-Harakiri“. Die Wirtschaft reagiert ebenfalls zunehmend nervös. Der Präsident des Großhandelsverbands BGA, Holger Bingmann, warnte im SWR vor einem „völlig ungeordneten Katastrophenszenario“.