Das britische Parlament stimmt am Dienstag über das mit der Europäischen Union ausgehandelte Brexit-Abkommen von Premierministerin Theresa May ab. Und die Briten? Horten unter anderem Vorräte – und erstellen gar „Hamsterlisten“.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Am Dienstag ließ sich die Entscheidung nicht länger aufschieben. Im Palast von Westminster sammelten sich die Abgeordneten zum Richtspruch über Theresa Mays Austrittsvertrag mit der EU.

 

Von so enormer Bedeutung war dieser Tag, dass die hochschwangere Labour-Abgeordnete Tulip Siddiq beschloss, die Geburt ihres Kindes aufzuschieben. Sie bat für den vorgesehenen Kaiserschnitt um einen neuen Termin und ließ sich von ihrem Mann per Rollstuhl ins Unterhaus bringen. Bei dieser Abstimmung wollte sie nicht fehlen – Kind hin oder her. Als wahrhaft historisch empfanden diese Zusammenkunft auch ihre Kollegen, die sich zu beiden Seiten der Hohen Kammer auf den grünen Bänken drängten. Eine Stimmung feierlicher Nervosität und beklommener Erwartung lag an diesem 15.Februar in Westminster in der Luft.

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Begrüßt wurden die Parlamentarier an diesem Morgen von früh anmarschierten Grüppchen aufgeregter Demonstranten beider Lager vor den Palasttoren. EU-Flaggen und Union-Jacks machten sich den Platz vorm Parlament streitig. Lautstarke Chöre suchten einander zu übertönen. „Leave means leave“, Austritt bedeutet Austritt, intonierten zornig wie eh und je die Brexiteers. „Hört endlich mit diesem Brexit-Chaos auf“, gaben ihnen die Pro-Europäer zurück, die in ihren blaugestrickten Mützen mit dem Sternenkreis aufgezogen waren und EU-Schirme schwenkten. „Es ist UNSERE Zukunft“, verkündeten die Banner der Befürworter eines neuen Referendums: „Lasst UNS entscheiden!“

Widerstreitende Emotionen

Die Brexit-Hardliner, die wie ihre Kontrahenten Mays Deal lautstark ablehnten, hatten eine andere Lösung für das Problem parat. Sie fanden, eine Vereinbarung mit der EU sei vollkommen überflüssig: „Kein Deal? Kein Problem.“ Ein weisser Bus, der vorm Parlament auf und ab fuhr, forderte: „Believe in Britain“, setzt euren Glauben in Großbritannien. Ein roter Bus proklamierte: „Niemand hat für einen Brexit gestimmt, der uns ärmer macht und uns aller Selbstbestimmung beraubt.“

Ein Echo fanden diese widerstreitenden Emotionen am gleichen Morgen auf den Frontseiten der nationalen Presse. „Das Interesse unseres Landes muss an oberster Stelle kommen“, mahnte die Daily Mail das Parlament. Leider finde sich May mittlerweile „ohne Verbündete und ohne Zeit“ für weiteren Aufschub, verkündete erbarmungslos der Daily Telegraph, der Boris Johnson und der Tory-Rechten nahesteht. Einer „historischen Niederlage“ ziehe die Regierungschefin entgegen, prophezeite die konservative Times. Der Labour-nahe Daily Mirror richtete sich direkt an May: „Werte Premierministerin, Ihr Deal wird heute sterben. Im Interesse nationaler Einheit – wollen Sie nicht endlich Augen und Ohren aufsperren und Ausschau halten nach einem Plan B!“

Viele sehen nur geringe Chancen für May

In der Tat schienen in den letzten Tagen so gut wie alle Abgeordneten die Chancen Mays auf einen Sieg abgeschrieben zu haben. Fast schon gedämpft, als wolle niemand bei einer Trauerfeier stören, ging es zu Beginn dieser Woche im Unterhaus zu. Nach all den hitzigen Redeschlachten der Vergangenheit hatten die Gegner des Deals offenbar das Gefühl, dass sie sich nicht länger anstrengen mussten. Auf der Regierungsseite herrschte – auch wenn es niemand zugeben wollte – zunehmend Resignation. Theresa May selbst wiederholte zwar bis zum letzten Moment, bis sie die Brexit-Debatte am Dienstagabend als Schlussrednerin beendete, ihre monatelang unermüdlich vorgetragene Überzeugung, dass bei allen Mängeln nur ihr Deal einen „geordneten“ und für die britische Wirtschaft verkraftbaren Austritt aus der EU erlaube, wie ihn „der Volkswille“ verlange.

Ihrem Kabinett hatte sie am Vormittag noch einmal erklärt, dass sie sich als „Dienerin des Volkes“ betrachtet. Sie sei „leidenschaftlich“ davon überzeugt, dass sie die Pflicht habe, ihren Auftrag zu erfüllen, sagte sie. Aber die Zeichen eines klaren Neins zu ihrem Deals waren seit langem für jedermann sichtbar.

Scharfe Proteste gegen die Premierministerin

Schon im vorigen Winter hatten die nordirischen Unionisten, von denen May im Unterhaus abhängt, rebelliert. Mit scharfen Protesten gegen Mays „Chequers“-Kompromissplan und den spektakulären Rücktritten von Brexit-Minister David Davis und Außenminister Johnson im letzten Sommer deutete sich der Umfang des Problems an für Regierungschefin. Im Streit um den „Backstop“, die irische Garantie-Klausel, verlor sich die letzten Hoffnung auf eine Annahme des Deals durchs britische Parlament.

Am Ende erntete May höhnisches Gelächter, als sie ihre Kritiker warnte, auch über sie werde die Nachwelt einmal zu Gericht sitzen, „wenn die Geschichtsbücher geschrieben werden“. Die BBC zitierte einen ungenannten früheren Minister mit den Worten: „Mir ist kein anderer Fall bekannt, in dem ein britischer Regierungschef eine Abstimmung im Parlament angesetzt hätte, von der er vorab wusste, dass er sie verlieren wird.“ „Brexit hat seit langem alle Regeln ausser Kraft gesetzt“, kommentierte die Politik-Chefin des Senders, Laura Kuenssberg, diese Bemerkung.

Land in der Krise

Nun habe die Regierung endgültig Chaos angerichtet und dem Land „eine Verfassungskrise beschert“, klagte der konservative Vize-Premier Lord Heseltine. Umweltminister Michael Gove, einer der ursprünglichen Brexiteers, warnte düster im „Game of Thrones“-Ton: „Winter is coming.“ Eine Art politischer Eiszeit mit üblen Überraschungen sah Gove wohl, bei einer Niederlage Mays und den danach erwarteten Turbulenzen, fürs Vereinigte Königreich am Horizont. Viele Landsleute des Ministers fragen sich freilich wirklich, was ihnen als nächstes bevor steht.

In zunehmender Sorge darum, Großbritannien könne in der Nacht zum 30.März ganz ohne Deal aus der EU ausscheiden, haben sie die sich in letzter Zeit häufenden Warnungen aus der Wirtschaft und die Ankündigungen von Notstands-Maßnahmen durch die Regierung verfolgt. Dass Tausende von Polizisten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eingesetzt würden, dass kilometerlange Schlangen von Lastwagen auf dem Weg nach Dover festsäßen und Arzneien und frische Nahrungsmittel vom Kontinent die Britischen Insel künftig womöglich nicht mehr rechtzeitig erreichen würden: Das alles hat Tag für Tag Schlagzeilen gemacht.

Inselbewohner horten Vorräte

Schon beginnen sich manche Insel-Bewohner – „für den Fall der Fälle“ – kleine Vorräte an haltbaren Lebensmitteln, an Konserven, an Klopapier, auch an Medikamenten zuzulegen. Von ersten „Hamsterlisten“ ist überall im Lande zu hören. Lebensmittel-Ketten warnen ihre Kundschaft davor, um Himmels willen nicht mit Panikkäufen erst recht Panik auszulösen. In diese Sorge mischt sich die Angst, dass Fabriken schließen müssen und Finanzbetriebe en masse abwandern würden bei einem „No Deal“.

Für die Politiker in Westminster ist es so weit noch nicht. Die Brexit-Hardliner streiten grundsätzlich ab, dass es dazu je käme. Und sie wissen noch immer einen Gutteil der Bevölkerung hinter sich, der auf Austritt um praktisch jeden Preis besteht. Einige Unterhaus-Brexiteers glauben auch, dass die EU ganz neu mit sich reden lasse, wenn sie sehe, wie unzufrieden das britische Parlament mit dem ihm vorgelegten Deal sei.

Andere, wie Labours Brexit-Befürworter John Mann, befürchten dagegen, dass die Brexit-Gegner nun ihre Chance sähen, den Brexit ganz fallen zu lassen. „Eine Mehrheit im Parlament will den Brexit doch blockieren“, meinte Mann gestern. In einem solchen Fall, ließ sich der frühere Ukip-Vorsitzende und Brexit-Veteran Nigel Farage vernehmen, werde er unverzüglich wieder in den Brexit-Kampf einsteigen. Denn das wäre ja reinster „Verrat“.