Die fünfte Brexit-Verhandlungsrunde beginnt an diesem Montag. Premierministerin Theresa May gerät zunehmend unter Druck. Die Wirtschaft verlangt ultimativ einen klaren Kurs für die Zukunft. Und auch in Brüssel will man endlich Fortschritte sehen.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Viel Zeit bleibt nicht. Großbanken und Investoren werden ungeduldig. Spätestens bis Weihnachten, warnt der britische Zentralbank-Vize Sam Woods, müsse endlich Klarheit herrschen – sonst würden Firmen aus der City of London, dem Finanzbezirk, allen Ernstes mit der Auslagerung von Jobs hinüber auf den Kontinent beginnen.

 

Die Angst vor einem „harten Brexit“ oder sogar einem Kollaps der Verhandlungen mit der EU geht um an der Themse. Zehntausend Arbeitsplätze sieht Catherine McGuinness von der City of London Corporation, dem Verband der City-Institutionen, bereits in Gefahr. Es sei „höchste Eile geboten“, drängt sie, wenn man diesem drohenden Exodus noch wehren wolle. Auch Josh Hardie vom Industriellen-Verband CBI glaubt, „dass wir jetzt keine Zeit mehr verlieren dürfen“ In der Tat sind seit der formellen Ankündigung des britischen EU-Austritts durch Premierministerin Theresa May schon mehr als sechs Monate verflossen. Und die Hoffnung, bis Oktober wenigstens die Scheidungsmodalitäten geregelt zu haben, ist längst dahin. Dass sich bei der an diesem Montag beginnenden fünften Verhandlungsrunde in Brüssel noch überraschend ein Durchbruch erzielen ließe, glaubt niemand mehr. Als neues Etappenziel für den Start der Verhandlungen über die britischen Handelsbeziehungen zur EU gilt nun der Dezember. Ob das realistisch ist, weiß kein Mensch. Im Moment scheinen sich die Gespräche festgefahren zu haben. Die Brexit-Hardliner reiben sich schon vergnügt die Hände, weil sie ein komplettes Scheitern der Verhandlungen in den nächsten Wochen für möglich halten. Nichts wäre ihnen lieber als ein Brüsseler Eklat, um ihr Land ganz von der EU abzukoppeln.

Wie die Übergangszeit aussehen kann, weiß keiner

Unterdessen zeigt sich Londons Chef-Unterhändler und Brexit-Minister David Davis noch halbwegs „optimistisch“. Zugleich hat er seinen Parteikollegen in der Vorwoche, auf dem Parteitag der Konservativen in Manchester, aber versichert, die Regierung wappne sich „fest entschlossen“ auch für den Fall, dass alles noch in die Brüche geht. Wie Davis neigt Regierungschefin May gegenüber der EU mal zu harschen, mal zu konzilianten Tönen. Bei ihrer Rede in Florenz im September hatte sie ja mit ihrem Plädoyer für eine Brexit-Übergangszeit von „rund zwei Jahren“ ihre Tory-Nationalisten verärgert, nach Ansicht der europäischen Partner aber einen „konstruktiven“ Vorschlag gemacht. „Über Übergangslösungen kann man reden“, sagte etwa EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger dieser Zeitung.

Wie die Übergangsperiode aussehen soll, darüber wird jedoch gerätselt. May hat angedeutet, dass London in dieser Zeit weiter in die EU-Kasse zahlen, den Europäischen Gerichtshof akzeptieren und Personen-Freizügigkeit respektieren könnte. Schon das ist für manche Minister schwer zu schlucken. Brexit-Wortführer wie Außenminister Boris Johnson argwöhnen, dass mit einer womöglich dehnbaren Interimslösung Großbritannien längerfristig oder sogar auf Dauer „halb in der EU“ verbleiben würde – und dass die Europäer es den Briten verbieten würden, eigene Handelsverträge mit anderen Staaten zu unterzeichnen. Mehrfach hat sich Johnson gegen Kompromisse beim Austritt aufgelehnt. Demonstrativ hat er „sein“ Ministerium, das Foreign Office, für die feierliche Gründung eines neuen rechtskonservativen „Instituts für Freihandel“ zur Verfügung gestellt. Es sei an der Zeit, erklärte er, dass sich Großbritannien „seiner Fesseln entledige“ und sich „von all den Qualen und Verwicklungen befreie“, die die EU den Briten beschert habe. „Alles wird gut werden“, betont er. Wenn es aber eine Übergangsphase geben müsse, dürfe die „keine Sekunde länger als zwei Jahre“ sein.

Credit-Rating-Agentur hat das Vereinigte Königreich herabgestuft

Schatzkanzler (Finanzminister) Philip Hammond, der die Befürworter einer weichen Landung beim Brexit anführt, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits von drei Jahren gesprochen. Wirtschaftsminister Greg Clark, gedrängt von vielen Unternehmen, brachte sogar fünf Jahre ins Spiel. Hammond, Clark und andere Kabinettsmitglieder fürchten nämlich die Folgen jeglichen Brexits – vor allem aber einen radikalen Bruch mit der EU. Besorgt verfolgen sie die ersten Anzeichen abflauenden Wachstums, die in diesem Herbst sichtbar zu werden beginnen, die Probleme der Bauindustrie und der Autoproduzenten im Lande, die Rekordverschuldung britischer Bürger, rapide Preiserhöhungen allerorts. Die „Brexit-Kriegskasse“, die Hammond angelegt hat, um Einbußen auszugleichen, soll im Zuge dieser Abwärtsentwicklung bereits um zwei Drittel geschrumpft sein . Eine Credit-Rating-Agentur hat das Vereinigte Königreich herabgestuft. Bilaterale Handelsverträge außerhalb der EU aber dürften schwieriger zu erzielen sein als von den Brexiteers erhofft. Mit inzwischen 300-prozentigen Zöllen auf Bombardier-Jets, die teils in Belfast produziert werden, hat die US-Administration signalisiert, was „America first“ für Donald Trump bedeutet – und wie wenig Hilfe sich die Briten erwarten können von ihrer „besonderen Beziehung“ zu Washington. Proeuropäer im Kabinett halten die Freihandelsvisionen Johnsons für pure Fantasterei. May indessen hat es bisher peinlichst vermieden, die harten Brexiteers oder die Rechtspresse auf der Insel frontal anzugehen – wie bei ihren sparsamen Äußerungen zur Übergangsperiode, die auch sie nun für nötig hält. Zum letztendlichen Verhältnis Großbritanniens zur EU hat sie noch gar nichts gesagt: Außer, dass es ein ganz neuartiges, „kreatives“ Verhältnis, made for Britain, sein müsse – nicht eins nach norwegischem Vorbild oder nach Schweizer Art. Sehr viel länger, glauben Beobachter, werde May nun freilich nicht mehr zwischen den Fronten ihrer beiden Parteiflügel lavieren können. Wenn sie an der Seite Hammonds eine weiche Landung suche, müsse sie in den nächsten Wochen den „Showdown“ wagen und einen Zerfall ihres Kabinetts in Kauf nehmen – und neuen „Bürgerkrieg“ um Europa in der Partei. Umgekehrt hoffen Johnson, Handelsminister Liam Fox und ein paar andere Minister, mithilfe der beharrlich antieuropäischen Stimmung an der Parteibasis die Regierungschefin weiter auf einem harten Anti-EU-Kurs halten oder die Brüsseler Gespräche noch ganz zu Fall bringen zu können. Auch sie wissen, dass die Stunde der Entscheidung unweigerlich naht.