Die Gefahr eines ungeordneten Brexit ist auch nach dem EU-Sondergipfel nicht gebannt. Wie entscheidet das Unterhaus?

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Am Ende gab es nichts mehr zu verhandeln, auch der Streit um Gibraltar war beigelegt. Die Staats- und Regierungschefs kamen nur kurz in Brüssel zusammen, um den Weg frei zu machen für den nächsten Schritt im Trennungsdrama zwischen Brüssel und London. Bei ihrem Sondergipfel beschlossen sie am Sonntag einstimmig das knapp 600-seitige Scheidungsdokument, das den Austritt des Vereinigten Königreichs nach 45 Jahren aus der EU regelt, sowie eine politische Erklärung zur Zukunft der gemeinsamen Beziehungen. Kanzlerin Angela Merkel sprach anschließend von einem „diplomatischen Kunststück“. Es sei gelungen, ein Vertragswerk zu formulieren, das die Interessen beider Seiten wahre, andererseits einen Ausblick auf die Zukunft gebe. EU-Ratspräsident Donald Tusk, der die Treffen der Staats- und Regierungschefs leitet, sagte: „Wie auch immer es ausgeht, eine Sache ist sicher: Wir bleiben bis zum Ende aller Tage Freunde, und noch einen Tag länger.“ Die eigentliche Hürde steht aber noch bevor: Das Paket muss vom britischen Unterhaus und dem Europaparlament gebilligt werden. Vor allem im britischen Parlament, wo die Abstimmung noch vor Weihnachten stattfinden soll, ist eine Mehrheit unsicher.

 

Wann kommt der Brexit?

Formal tritt das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 aus der EU aus. Bis Ende 2020 läuft allerdings eine Übergangsphase, in der es keine Zoll- und Grenzkontrollen gibt. In dieser Zeit, in der beide Seiten die künftigen Beziehungen aushandeln wollen, muss Großbritannien weiter Beiträge an die EU zahlen und sich an die Verträge halten. Das Land darf allerdings nicht mehr über die Zukunft der EU mitbestimmen. Es wurde jetzt beschlossen, dass die Übergangsphase bis Ende 2022 verlängert werden kann, wenn man sich bis 2020 nicht einigen sollte.

Was steht im Scheidungsdokument?

Großbritannien muss Geld zahlen, um die eingegangenen Verpflichtungen aus der EU-Mitgliedschaft wie Pensionsansprüche für die EU-Beamten abzulösen – gerechnet wird mit etwa 45 Milliarden Euro. Klar ist zudem, dass rund drei Millionen EU-Bürger, die auf der Insel leben, sowie eine Million Briten, die auf dem Kontinent leben, auf Dauer die gleichen Rechte genießen wie bisher, etwa bei der Sozialversicherung, beim Zugang zum Arbeitsmarkt und Aufenthaltsrecht.

Was ist mit Irland?

Beide Seiten sind sich einig, dass an der inneririschen Grenze Zoll- und Grenzkontrollen vermieden werden sollen. Schlagbäume zwischen der Republik Irland, die zur EU gehört, und Nordirland, das als Teil des Vereinigten Königreichs aus der EU ausscheidet, würden den Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gefährden.

Unklar ist bis heute, wie es gelingen soll, einerseits Grenzkontrollen zu vermeiden, andererseits Großbritannien wieder die Hoheit über regulative Standards und Zölle zu geben. Die EU hat immer eine Auffanglösung („Backstop“) für den Fall verlangt, dass man sich nicht auf gemeinsame Regelungen für die Zukunft einigen kann.

Nun wurde verabredet, dass in diesem Fall Großbritannien bis auf Weiteres in der Zollunion mit der EU bliebe. Nordirland würde in diesem Szenario auch komplett im EU-Binnenmarkt bleiben. Die Einigung zu Nordirland stellt wohl die größte Hürde im britischen Parlament dar. Es zeichnet sich ab, dass viele Abgeordnete die Passage als eine Einschränkung der britischen Souveränität interpretieren. Sie könnten das Abkommen zu Fall bringen.

Wie geht es nach dem Brexit weiter?

Der Gipfel hat eine politische Absichtserklärung zu den künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien verabschiedet. Das Dokument hat gut 30 Seiten und ist nicht verbindlich. Es sieht eine enge und „ehrgeizige“ Kooperation zwischen Brüssel und London auf vielen Gebieten vor. So soll ein weitreichendes Freihandelsabkommen abgeschlossen werden. Beide Seiten wollen in der Außen- und Sicherheitspolitik eng kooperieren. Schon jetzt ist absehbar, dass eine Einigung auf ein Fischereiabkommen schwierig werden dürfte.

Wie die Beziehungen konkret ausgestaltet werden sollen, ist in weiten Bereichen offen. Klar ist etwa, dass Großbritannien der Ausstieg aus der EU im Bereich der Weltraumpolitik besonders schmerzt. In der Absichtserklärung heißt es dazu lediglich: Beide Seiten sollten Regelungen für eine Kooperation in Erwägung ziehen.

Was passiert, wenn das britische Unterhaus oder das EU-Parlament nicht zustimmen?

Das Ausstiegsdokument kann nicht nachverhandelt werden. Das betonen beide Seiten. Sollte ein Parlament die Ratifizierung verweigern, würde es einen ungeordneten Brexit geben. Alle Kompromisse wären damit hinfällig, der Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Daten zwischen der EU und Großbritannien würde vom 29. März 2019 an zumindest massiv gestört, EU-Bürger mit Wohnsitz auf der Insel hätten keine Rechtssicherheit mehr. Und im EU-Haushalt würden rund zwölf Milliarden Euro im Jahr fehlen.