Eine Stuttgarter Schülerin schreibt im Corona-Lockdown Briefe an die Staatsoberhäupter der Welt und bittet sie um Lebensweisheiten. Inzwischen hat sie von vielen eine Antwort erhalten – mit teils sehr persönlichen Ratschlägen.

Digital Desk: Simon Koenigsdorff (sko)

Es ist der zweite Corona-Lockdown, und Sandra Grupp treibt ein Gefühl um, das die Schülerin mit vielen jungen Menschen im Frühjahr 2021 teilt. Die Stuttgarterin fühlt sich verloren zwischen dem nicht enden wollenden Eingesperrtsein und einer ungewissen Zukunft. „Ein bisschen lost “, wie sie es heute ausdrückt. Sie verbringt ihre Zeit statt mit Freunden und Hobbys daheim, hat virtuellen Unterricht, und fragt sich, wie es nach dem Abitur in einem Jahr weitergehen soll. Um sich herum sieht sie Menschen, die ähnlich orientierungslos sind, Bekannte, deren Existenzen die Pandemie zerstört. Doch statt darüber nur mit Freunden und Familie zu sprechen, entwickelt die damals 18-Jährige eine ungewöhnliche Idee: Warum nicht die führenden Köpfe der Welt um Rat fragen?

 

Also setzt die Schülerin ein Schreiben an die Staatsoberhäupter fast aller Länder der Erde auf. Sie will wissen, welchen Werten und Prinzipien die Männer und Frauen an der Spitze der Weltpolitik folgen – und was sie ihr als junge Deutsche mit auf den Weg geben würden. Und sie will per Brief fragen. Denn: „Das hat viel mehr Gewicht in unserer sehr digitalen Welt“, meint Grupp. Tagelang recherchiert sie nach Adressen, am Ende müssen ihre Eltern dabei helfen, knapp zweihundert Briefe einzutüten und zu frankieren.

Warum ausgerechnet Staatschefs schreiben?

Dann heißt es warten. Einige Briefe kann die Post nicht zustellen, doch nach zwei Wochen trudelt die erste Antwort ein: Eine höfliche Absage aus Liechtenstein, Fürst Hans-Adam II. könne bedauerlicherweise nicht persönlich antworten. Doch das ist erst der Anfang.

Wenn Grupp heute die Antwortbriefe auf dem Esstisch ausbreitet, klingt sie selbst ein wenig ungläubig. „Ich habe eigentlich wenig erwartet und erst recht nicht mit persönlichen Antworten gerechnet“, sagt sie. Damals weiß sie zwar schon, dass sie nicht die Erste ist. Im Internet stößt sie auf zwei junge Menschen aus den USA und Großbritannien, die beide schon Ähnliches versucht und ihre Erfahrungen online geteilt haben. Dass sie rund zwanzig Antworten erhalten würde, hat sie trotzdem überrascht.

Grupp interessiert sich für Politik, hat schon für den Jugendrat ihres Stadtbezirks kandidiert. Dass gerade die Staatsoberhäupter der Welt gute Ratschläge geben könnten, war für sie nur folgerichtig: „Diese Personen müssen zumindest in Demokratien viele Menschen für sich gewinnen.“ Während sie im April 2021 mit ihren Existenzfragen zuhause saß, sei ihr der Blick von außen schwer gefallen, erzählt sie heute: „Ich wollte wissen, ob es noch ganz andere Blickwinkel aus anderen Ländern gibt.“

Lebensratschläge aus Südamerika

Bald erhält sie tatsächlich Post aus allen Ecken der Welt, vom Recyclingpapier-Umschlag über staatstragendes Briefpapier bis hin zu ganzen Paketen. Manche kommen nach Wochen, andere nach vier Monaten. Grupp zieht nacheinander eine Dankeskarte aus Schloss Windsor mit geschwungener, handschriftlicher Anrede hervor, dann ein Schreiben des polnischen Präsidenten inklusive Foto-Autogrammkarte. Der Vorsitzende des kasachischen Komitees für Auslandsinformation betont, wie wichtig es sei, zeitlebens fremde Länder und Sprachen kennenzulernen, und lässt ihr ein Buch über sein Heimatland zukommen.

US-Präsident Joe Biden und die Obamas, denen Grupp ebenfalls geschrieben hatte, antworten zwar nicht, dafür jedoch einige kleine lateinamerikanische Staaten wie Barbados oder das Suriname. Aus dem wenig bekannten Land in Südamerika, das fast nur aus Regenwald besteht, schreibt ihr die First Lady im Namen des Präsidenten und rät, die eigene Komfortzone zu verlassen und ein klares Ziel im Leben zu verfolgen – sie selbst habe sich aus einer ländlichen Gegend zu ihrer heutigen Position emporgearbeitet. Einige geben recht naheliegende Empfehlungen: Tschechiens Präsident Miloš Zeman rät, den Menschen mit einem Lächeln zu begegnen. Dazu, was jeder in seinem Leben getan haben sollte, hat Maltas Präsident George Vella dagegen eine klare Meinung: „Auschwitz und Treblinka besuchen.“

Berührende Antwort von Jacinda Ardern aus Neuseeland

Welche Antwort hat sie am meisten berührt? „Ganz klar die aus Neuseeland“, meint Grupp und faltet ein langes Schreiben auf, unterzeichnet von Premierministerin Jacinda Ardern. Der Brief lässt erahnen, warum sie von vielen als moderne, feministische Vorbildpolitikerin gesehen wird. Was sie Frauen auf den Weg geben wolle, schreibt Ardern, sei Selbstvertrauen, denn jeder Mensch habe Zweifel. „Ich weiß, dass ich sie habe!“, gibt die Spitzenpolitikerin unumwunden zu – und betont, dass man lernen könne, negative innere Stimmen zu überwinden.

Arderns Einladung, einmal selbst Neuseeland zu besuchen, will Grupp irgendwann folgen. Davor heißt es nach bestandenem Abitur für sie jedoch zuerst einmal, einen Studienplatz zu finden. Denn diese Lebensfrage konnte sie inzwischen beantworten: Sie will Soziologie und Politik studieren. Nur eins lässt sie nicht los: Angela Merkels Büro, der sie statt Bundespräsident Steinmeier geschrieben hatte, ließ wissen, die Kanzlerin könne keine privaten Fragen beantworten. Nach Merkels Rückzug aus der Politik hat Grupp ihr ein zweites Mal geschrieben und hofft doch noch auf eine Antwort. Bisher blieb der Briefkasten leer.