Briefe von Ensslin und Vesper in Marbach Literatur, Wahnsinn und Terrorismus

Das Literaturmuseum Marbach hat Dokumente aus dem Leben zweier Schlüsselfiguren der RAF-Jahre vorgestellt: Gudrun Ensslin und Bernward Vesper.
Marbach - Für das deutsche Kino war die Sache in den letzten Jahren meistens klar: Interessant werden die Mitglieder der RAF für die Kamera erst mit dem Abtauchen in den Untergrund. Bankraub, Bombenanschläge, Morde und Entführungen - das lässt sich aufregend erzählen. Im Literaturmuseum der Moderne in Marbach gab es keine Maschinenpistolen und Fluchtautos zu sehen, als am Mittwochabend Briefe und Fotos des Verlegers und Autors Bernward Vesper sowie dessen zeitweiliger Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Gudrun Ensslin vorgestellt wurden. Es ging um etwas viel Interessanteres als die Terrorphase, um den Weg von Individuen ins radikale Abseits.
Dem Archivleiter Ulrich von Bülow standen bei der Kommentierung von Briefen und Fotos zwei schneidend eloquente Kenner der Materie zur Seite. Zum einen 1967 in Berlin geborene Sohn von Vesper und Ensslin, Felix Ensslin, der seit 2009 als Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung an der Kunstakademie Stuttgart unterrichtet. Zum anderen der 1959 in Stuttgart geborene Regisseur Andres Veiel („Black Box BRD“), der vergangenes Jahr den Spielfilm „Wer wenn nicht wir“ vorgelegt hat, in dem er nach langer Recherche von Vesper und Ensslin erzählt.
Übermaß der Einfälle
Dass der Abend ein Fragment blieb, lag nicht an der Dürftigkeit, sondern am Übermaß der Einfälle. Nach der ersten Stunde war von Bülow in seiner Power-Point-Präsentation nur wenige Bilder vorangerückt. Ensslin, Veiel und der Gastgeber hätten schon mit Gesprächen über die ersten beiden Fotos den gesamten Abend bestreiten können. Die Bilder zeigen Bernward Vesper als kleines Kind und als Jugendlichen mit seinem sechsundfünfzig Jahre älteren Vater, dem im Dritten Reich viel gelesenen Blut-und-Boden-Autor Will Vesper, der auch nach dem Krieg extrem wirklichkeitsfremdes Gedankengut pflegte.
Bernward Vesper hat sich, typisch für viele kluge Köpfe seiner Generation, von weit rechts auf den Weg nach weit links gemacht. Unterwegs sind ihm, der sich anders als Gudrun Ensslin nie dem bewaffneten Kampf anschloss, wie die Formel lautete, viele Gewissheiten zerbrochen. Er nahm sich 1971 als Psychiatriepatient das Leben. „Die Psychose“, vermutet Veiel, „war für ihn eine letzte Schale, die als System alles zusammenhalten sollte.“
Nach zweieinhalb Stunden herrschte über eines Einigkeit: einen zwangsläufigen Weg in den Terror gab es damals nicht. „Die Leben“ glaubt Felix Ensslin aus den Dokumenten zu lesen, „waren immer wieder voller Zufälle und Abzweigungsmöglichkeiten.“
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