Politiker sind damit beschäftigt, sich im Sattel zu halten. Deshalb brauchen sie jemanden, der ihnen den Weg zeigt: Der jetzt vorliegende Briefwechsel von Günter Grass und Willy Brandt wirft ein Licht auf das Verhältnis von Geist und Macht.

Stuttgart - Intellektuelle sind in Staatsämtern gefährlich, weil sie selbst glauben, was sie sagen. So ähnlich muss es Bundeskanzler Willy Brandt empfunden haben, als er sich dem Drängen seines Duzfreundes Günter Grass verweigerte, ihn mit einem Regierungsamt auszustatten. Der Autor der „Blechtrommel“ wollte die Linie zwischen beratendem Intellektuellen und politischer Macht überschreiten. Nicht zuletzt daran ist dieses viel gerühmte Bündnis von Geist und Macht gescheitert. Das können wir nachlesen in dem jetzt im Göttinger Steidl-Verlag veröffentlichten, sehr umfangreichen Briefwechsel, den Brandt und Grass über drei Jahrzehnte hinweg geführt haben. Er ist ein Lehrstück darüber, dass Intellektuelle zwar großen Einfluss auf die Politik gewinnen können, Politiker aber doch eigenen Gesetzen folgen. Anders gesagt: der Geist geht an der Macht vorbei.

 

Der Briefwechsel gibt Anlass zu der Frage, ob in diesem Wahljahr 2013 die Politik noch der Intellektuellen bedarf und ob es den Intellektuellen von Rang überhaupt noch gibt. Die Situation hat sich beträchtlich verändert. Als sich Westberlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt 1961 entschloss, im Adenauer-Land als Kanzlerkandidat anzutreten, suchte er nach Verbündeten, um den Geist der Republik zu verändern. Von den um ihn gescharten Autoren hob Günter Grass die Hand. In den Jahren der Wiederbewaffnung und Atomrüstung waren Intellektuelle als Mahner aufgetreten, und zur Bundestagswahl 1961 versammelten sich zwanzig Autoren in dem Band „Brauchen wir eine neue Regierung?“ Unter ihnen waren Enzensberger, Schnurre, Lenz, Grass und Walser.

Der Begriff Intellektueller war in Deutschland ein Schimpfwort

Dieses Engagement war keineswegs selbstverständlich, denn in Deutschland war „Intellektueller“ ein Schimpfwort. Der Begriff war aus Frankreich gekommen. In der Dreyfus-Affäre von 1898 hatte Émile Zola mit seinem „J’accuse“ die französische Gesellschaft in Dreyfus-Freunde und Dreyfus-Feinde gespalten. Die illegal erzwungene Verurteilung des Hauptmanns Alfred Dreyfus als eines vermeintlichen Spions war aber nur der äußere Anlass. Tatsächlich ging es um Recht und Demokratie. Die Anhänger des „Manifests der Intellektuellen“ trugen dazu bei, dass dieses Wort hochgehalten wurde von allen, die bereit waren, ihrem Gewissen ebenso zu folgen wie demokratischen Prinzipien und einem rationalen Wahrheitsbegriff. Man empfand sich als Sachwalter der 1789 in Kraft gesetzten Menschenrechte.

Im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik redete man lieber vom „deutschen Geist“, der sich für vieles einspannen ließ. Damals und von 1933 an erst recht galt der Intellektuelle als undeutsch, zersetzend, blutleer, wurzellos. Lediglich Heinrich Mann sagte 1932: „Es bedarf des Mutes, Wahrheiten zu verfechten.“ Nach dem Krieg stand man auch in geistiger Hinsicht vor einem Trümmerberg. Wer konnte nun Halt und Orientierung bieten?

„Ratten und Schmeißfliegen“

Man versuchte an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen und fand sich bei der „unantastbaren Kultur“ wieder, die aber den Intellektuellen eher als Antipoden begriffen hatte. Nur Zeitschriften wie „Der Ruf“ (aus dem die „Gruppe 47“ hervorging), die „Frankfurter Hefte“ oder „Der Monat“ traten für eine substanzielle Politisierung der Menschen ein. Aber erst Max Frisch nannte sich unbefangen einen Intellektuellen. Kultur, sagte er, habe es in Deutschland in Überfülle gegeben, hingegen kein Engagement für Politik. Kultur dürfe nicht länger ein Alibi sein.

So betrat in den fünfziger Jahren ein neuer Typus die politische Bühne. Er wollte mit Kritik allerlei Selbstverständlichkeiten aufbrechen. Es fehlte nicht an Gegenstimmen. Arnold Gehlen schrieb, den Intellektuellen sei ein gesundes Seelenleben verwehrt, weil sie zwischen Ohnmacht und hohen moralischen Ansprüchen stecken blieben. Und weil der Geist damals links zu wehen begann, sprachen Ludwig Erhard von „Pinschern“ und Franz Josef Strauß von „Ratten und Schmeißfliegen“. Das war in etwa die Situation, in der Willy Brandt Ratgeber um sich zu versammeln begann. Doch keiner kam ihm so nahe wie Günter Grass, der sich mit erstaunlicher Vehemenz auf die Sache einließ. Davon zeugt auch der jetzt edierte Briefwechsel. Er war allerdings eher einseitig, denn zwei Drittel der Briefe stammen von Grass, das andere Drittel von Brandt.

Der Einfluss schwindet

Die Erklärung dafür ist einfach: Brandt war der Mann, dem Grass über alle Maßen vertraute. Er verkörperte für ihn das bessere Deutschland und sah in ihm eine Art Wunschvater. Brandt hatte die makellose Vergangenheit, die Grass – wie wir später erfuhren – als ehemaliges Mitglied der Waffen-SS nicht hatte. Es dürfte eine Freud’sche Projektion gewesen sein: das Verfolgen eigener Wünsche im anderen.

Die Bewunderung hielt Grass keineswegs davon ab, sein Idol zu kritisieren, ja ihm Vorschriften machen zu wollen. Unter einem Bundeskanzler Kiesinger, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, könne er, Brandt, nicht in einer Großen Koalition Vizekanzler werden. Und Strauß dürfe niemals mehr Minister werden. Später griff er Karl Schiller, unter Brandt Wirtschaftsminister, wegen dessen NS-Mitgliedschaft scharf an. Dieser Rigorismus begann Brandt zu stören. Als ihm Grass vorschlug, ein gemeinsames Wochenende zu verbringen, sagte der Kanzler zu seinem Referenten, der Mann gehe ihm auf die Nerven. Und als Grass die Machart der deutschen Einheit kritisierte, die er wegen Auschwitz ohnehin für unmöglich hielt, zerbrach das Verhältnis. Dabei war Grass es gewesen, der dem Kanzler in seiner Antrittsrede 1969 zu der Formulierung geraten hatte: „Mehr Demokratie wagen“. Ohne Zweifel hat deren Zusammenarbeit die Republik geprägt.

Wie geht es mit der Demokratie weiter?

In den neunziger Jahren dann begann der Einfluss der Intellektuellen zu schwinden. Zum Ansehensverlust trug bei, dass einige von ihnen ihre Mitgliedschaft in NS-Organisationen verschwiegen hatten. Grass hatte, wie gesagt, der SS angehört, und ein anderer Anwalt der Demokratie, Walter Jens, der NSDAP. Doch der eigentliche Anstoß zum Niedergang kam wiederum von Frankreich. Dort begannen die Intellektuellen an der Autonomie des Individuums und an der Möglichkeit universeller Wahrheiten zu zweifeln. Michel Foucault erklärte den Intellektuellen für tot. Nach Sartre könne sich nur noch der spezialisierte Intellektuelle ein Urteil erlauben.

Das stimmte so nicht, denn 2004 veröffentlichte Colin Crouch ein Büchlein mit dem Titel „Postdemokratie“, das eine große Wirkung entfaltete. Der Autor behauptet, die entwickelten Demokratien würden mehr und mehr vordemokratische Züge annehmen. Das ist eine Meinung, über die Intellektuelle eigentlich streiten könnten oder gar müssten. Aber es geschieht wenig. Die Verbreiterung der Bildung, die Medienrevolution, die Dominanz des Bildes vor dem Wort lassen dem Intellektuellen nur noch Restfunktionen. Er hat das Privileg des Besserwissenden verloren. Dem allgemein Politischen verpflichtete Autoren wie Wolf Lepenies, Hermann Lübbe, Herfried Münkler oder Ulrich Beck werden nur noch am Rande wahrgenommen.

Dabei wäre der Intellektuelle, der über das Spezialistentum hinausweist, keineswegs überflüssig. Im Gegenteil, der Ökonom Joseph Schumpeter hat gesagt, der demokratische Politiker sei wie ein Reiter, „der durch den Versuch, sich im Sattel zu halten, völlig in Anspruch genommen wird, dass er keinen Plan für seinen Ritt aufstellen kann“. Das erinnert an Angela Merkel, an ihren Pragmatismus und ihre vermeintliche Politik der Alternativlosigkeit. Schlüge nicht genau deshalb jetzt die Stunde der Intellektuellen? Wie es mit der Demokratie weitergeht, was aus den Nationalstaaten und aus Europa wird, sind Fragen, die Intellektuelle geradezu herausfordern müssen. Und wir können nur hoffen, dass es sie noch oder bald wieder gibt.