Bruce Springsteen legt seine Autobiografie vor. In „Born to run“ erzählt der amerikanische Rockmusiker so umfangreich wie erhellend seinen Aufstieg aus kleinen Verhältnissen zum Superstar.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Wie drückt sich ein Künstler aus? In der Regel mit seinen ureigenen Mitteln. Ein Maler mit dem Pinsel, ein Regisseur mit seinen Filmen, ein Balletttänzer mit seiner Körperbeherrschung – und ein Sänger und Musiker mit seiner Stimme und seinem Instrument. Eines seiner beiden Ausdrucksmittel, sein Instrument, lässt der Gitarrist Bruce Springsteen in „Born to run“ nun schweigen. Doch natürlich möchte er in seiner Autobiografie auch viel über Musik und ganz besonders seine Musik reden. Springsteen tut dies stellenweise fast schon minutiös, wenn er über Songentwürfe schreibt, über Instrumentierungen, Aufnahmeprozeduren, Soundstrukturen oder einfach nur vom Leben on the Road berichtet, das in seinem Fall nun einmal ein Leben von der und für die Musik ist.

 

Springsteen schildert das alles in Seelenruhe und buchstäblich von Kindesbeinen an. Auf Seite 97 seiner Autobiografie befindet sich Springsteen bereits, als er von seiner ersten Band zu erzählen beginnt, den Castiles. Auf Seite 254 erst ist er bei seinem Debütalbum „Greetings from Asbury Park“ gelandet, geruhsam endet er bald vierhundert Seiten später bei der Tournee zum vorletzten Album „Wrecking Ball“ und schließlich bei „High Hopes“, dem Titelsong zu seinem gleichnamigen bislang letzten Album. Wir befinden uns da in Kapitel 77; es ist weder das letzte in diesem Buch noch wird es das letzte in der Vita dieses Künstlers sein. Springsteen hat längst alle Gipfel des Ruhms erklommen, doch der 67-jährige Mann wirkt tatendurstig wie eh und je, wie man auch – oder trotz – der Lektüre seiner Autobiografie feststellen darf.

Ambivalentes Privatleben

Denn von einer bis dato unbekannten Schattenseite seines Lebens berichtet Springsteen ebenfalls: den Depressionen, unter denen er seit dreißig Jahren leidet und die er auch schon mit medizinischer Hilfe zu bekämpfen versucht hat, wie er in „Born to run“ bekennt. Das Hadern, der (Selbst-)Zweifel, die Einsamkeit inmitten des Sternenglanzes: Springsteen beschreibt dies mal zwischen den Zeilen, mal in klaren Worten, und gegen Ende des Buchs deutlich in der Schilderung einer Episode, die ihn sechs Wochen lang nahezu paralysierte und ihn sich selbst fragen ließ, ob er jemals wieder auf einer Bühne würde stehen können. Es sind dies so erhellende wie verstörende Momente in „Born to run“; sie zeigen den Superstar von einer ganz anderen, einer zerbrechlichen Seite. Den Mann, der – wie er im Buch schreibt – bei Frank Sinatra ein- und ausging, der mit seinem Kindheitsidol George Harrison eine Freundschaft pflegte, der zwanzig Grammys gewonnen, weit über hundert Millionen Schallplatten verkauft hat und mit seinen Konzerten Stadien füllt. Und der sich doch oft einsam und unverstanden fühlt.

Linderung findet der Rockmusiker in seinem durchaus ambivalenten Privatleben. Springsteen beschreibt sich – diese Schilderungen durchziehen weite Teile des gesamten Buchs – als fürsorglichen Familienmenschen. Anrührend spricht er von seiner Frau als seiner großen Lebensstütze, seinen drei Kindern, seinen Bandkollegen und engen Freunden, die er ebenfalls als Teil seiner großen Springsteen-Familie begreift. Zumeist jedenfalls, denn der „Boss“ (den Namen haben ihm einst seine Musiker verpasst, weil er ihnen die Gage stets bar ausbezahlte) erwähnt auch dezidiert, wie und warum er im Prozess seines Musikschaffens stets der Herr des Verfahrens bleiben möchte.

Ehrlicher Rocker

Die eigentliche Ambivalenz offenbart „Born to run“ hingegen in der sehr komplizierten Vater-Sohn-Beziehung, die ein bestimmendes Sujet der Biografie ist. Der Sohn Bruce schreibt sehr viel über die eigenen Abnabelungsversuche von den kleinbürgerlichen Verhältnissen in New Jersey, an denen sein Vater selbst zu verzweifeln schien, die aber doch immer – auch als Springsteen längst zum Superstar gereift ist – bestimmend für sein Denken und Handeln bleiben. Bruce Springsteen vergisst nie, wo er herkommt, daraus zieht seine Musik ihre Stärke. Und daraus bezieht auch die Autobiografie ihre Eindringlichkeit, wenn etwa dieser gewiss millionenschwere Mann stolz schildert, dass sein Sohn den Beruf eines einfachen Feuerwehrmanns ergriffen hat.

Springsteens Ethos prägt dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite. Kein anderer großer Rockmusiker hat so sehr das Image des Hard working Man für sich kultiviert wie er. „Selbstbeherrschung war meine Religion geworden“, schreibt Springsteen über seine Anfänge als hoffnungsvolles Nachwuchstalent, sein Leitsatz ist dies bis heute geblieben. „Für mich ging es nicht um den Sex, nicht um die Drugs, es ging um den Rock ’n’ Roll“, schreibt er ferner über seinen Aufstieg in diesem Business, auch dank harter Disziplin ist er groß geworden. Indem er vorlebt, was er sagt, hat er sich den Ruf eines ehrlichen Rockers erarbeitet, und so schreibt Springsteen auch seine Autobiografie. „Born to run“ hat er sie gewiss nicht grundlos in Anlehnung an sein drittes Album betitelt, der Wunsch, ständig positiv zu denken und immer weiter zu machen spricht daraus. Trotz aller artikulierten Sorgen und Nöte strotzt das Buch vor Selbstbewusstsein.

Energie zwischen Buchdeckeln

Es erhellt so auch bemerkenswert den Kosmos, aus dem sich seit je Bruce Springsteens Songtexte speisen. Als Sprachrohr der einfachen Menschen hat er sich immer verstanden, als Mahner, der die Missstände in seinem Heimatland benennt und doch stets an den Ausweg glaubt, an den amerikanischen Traum, in dem selbst verloren geglaubte Seelen unbeirrt ihren Weg zum Glück machen können. Einige wenige jedenfalls. Demut und Ehrfurcht vor dem Erreichten, weit mehr als lediglich Stolz darauf – auch das sind bestimmende Elemente in diesem Buch. An Literatur über Bruce Springsteen herrscht kein Mangel, ganz im Gegenteil. Das allerdings, über was kein Chronist zuvor verfügte, die Innenansicht, hat er nun selbst hinzugefügt. Springsteen hat im Gegensatz zu vielen anderen für seine Autobiografie keine helfende Hand hinzugezogen, keinen Ghostwriter, dem er alles nur in den Block diktiert hätte. Man merkt dies an einigen Stellen, die ein Koautor womöglich etwas straffer und weniger ausschweifend gestaltet hätte; dennoch zeigt sich auch in „Born to run“, was für ein enorm fähiger Chronist des Lebens Bruce Springsteen ist. Sieben Jahre lang hat er selbst an diesem Buch gearbeitet, daran gefeilt, immer wieder Passagen neu zusammengefügt und ergänzt. Alles hat er dabei von Hand in ein Notizbuch geschrieben. Man muss ihm nicht zuletzt für die enorme Gedächtnisleistung ebenso Respekt zollen wie für die Energie, mit der er dies alles zwischen zwei Buchdeckel gepresst hat.

Immense Kraftanstrengung

Bei vier Stunden und sechs Minuten, aufgestellt bei einem Konzert in Helsinki, steht Bruce Springsteens eigener Spielrekord bei einem Auftritt. Das ist, im Sinne seiner Lebensphilosophie, viel „Value for Money“ – er wandelt dabei aber stets auf einem schmalen Grat, hart an der Grenze zum Zuviel-des-Guten. Konsequent ist so betrachtet der bald siebenhundert Seiten dicke Backstein von Autobiografie geraten, den Springsteen jetzt vorgelegt hat: Er hat, wie immer, alles gegeben. Wer Bruce Springsteen schon einmal live gesehen hat, der weiß bei aller Freude, die der „Boss“ dabei ausstrahlt, um die immensen Kraftanstrengungen, die er seiner Band und vor allem sich selbst auf der Bühne abverlangt. Über Stunden währen seine Auftritte immer, an ihrem Ende geht stets ein schweißdurchtränkter Mann von der Bühne, der seine Konzerte genau so begreift wie dieses Buch und eigentlich alles in seinem Leben: als ein hartes Stück Arbeit.