Bruch bei Stuttgarter Zwillingen „Bloß keine ähnlichen Namen“ – diese Fehler sollten Zwillingseltern vermeiden

, aktualisiert am 22.10.2025 - 09:38 Uhr
Jennyfer (links) und Jessyca Haas waren immer eins – bis es irgendwann krachte. Foto: Ferdinando Iannone

35 Jahre lang waren Jessyca und Jennyfer Haas ein Herz und eine Seele. Dann kam es zum Bruch – sie mussten herausfinden, wer sie ohne ihren Zwilling sind. Was sie Zwillingseltern raten.

Familie, Zusammenleben und Bildung: Julika Wolf (jwo)

Bis sie 15 Jahre alt waren, trugen Jessyca und Jennyfer Haas die gleichen Klamotten. Aus praktischen Gründen, so habe ihre Mutter das erklärt. „Wenn es doppelt war, gehörte es den Zwillingen“, sagt Jessyca. In einem sechsköpfigen Haushalt muss man die Dinge einfach halten.

 

Aus heutiger Sicht, sagen die beiden 40-Jährigen, war das eine Katastrophe – die gleiche Kleidung tragen zu müssen, obwohl sie sich eigentlich unterscheiden wollten. Immer als eins gesehen zu werden, obwohl sie zwei unterschiedliche Personen sind. Mit 35 Jahren führte das zum Bruch zwischen beiden. Inzwischen sind sie mit ihrer Beziehung glücklicher denn je. Doch das bedeutete Arbeit für die eineiigen Zwillinge aus dem Schwarzwald.

Gleiches Zimmer, gleich Musik, gleiche Kleidung

Das Gleichsein zog sich durch ihr Leben. Sie teilten sich ein Zimmer, machten das Licht zur gleichen Zeit aus – auch wenn die eine vielleicht noch länger wach bleiben wollte – und hörten dieselbe Musik.

Heute erleben die beiden „die Blüte ihres Zwillingsdaseins“. Foto: Ferdinando Iannone

Auch in den gleichen Kindergarten gingen sie. Von wochenlanger Eingewöhnung keine Spur – die Zwillingsschwester war ja dabei. Es ging sogar so weit, dass Jessyca später eingeschult wurde, weil Jennyfer noch nicht bereit war. Bis sie 18 Jahre alt waren, gingen sie in die gleiche Klasse. Und das eben meist in gleicher Kleidung – das bedeutete für die beiden damals einen Einschnitt in die Pubertät und in die Selbstentwicklung, sagen sie. Den eigenen Style zu entwickeln, blieb ihnen dadurch lange Zeit verwehrt.

Wenn es einer mal nicht gut ging, fiel gleich auf, dass sie anders aussah als ihre Schwester. Besonders, wenn die gesunde Schwester geschminkt war. Gewissermaßen war das Bild dessen, wie man eigentlich aussehen könnte, ja immer dabei. „Dann achtest du halt noch mehr drauf, dass der Kayal gleich gezogen ist und dass die Haare gleich sitzen“, sagt Jessyca.

Die Ähnlichkeit der beiden habe viele Mitmenschen verunsichert – so sehr, dass sie sich nicht trauten, sie anzusprechen. „Bevor man sich die Blöße gibt, sagt man lieber gar nichts“, sagt Jessyca. „Mit 15 lernst du ja auch schon Jungs kennen. Die wussten auch nie, wer wer ist.“ Noch heute komme es vor, dass Menschen sie nicht grüßen – aus Angst, den Zwilling zu verwechseln.

Jessyca ging nach Irland, zum Studium, nach Stuttgart – Jennyfer kam nach

Nach der Schule ging es ähnlich weiter: Jessyca ging für ein Jahr nach Irland, um Englisch zu lernen – Jennyfer kam nach. Jessyca bewarb sich für ein Studium und ging nach Fulda – Jennyfer kam nach. Jessyca ging für ihr erstes Praktikum nach Stuttgart – Jennyfer kam nach.

Im Nachhinein kann sie das nicht mehr nachvollziehen, sagt Jennyfer. „Ich glaube, das war die Unfähigkeit, mich mit mir auseinanderzusetzen und zu entscheiden, was ich will.“ Eigentlich wollte sie in Irland bleiben. „Da war mein Herz. Aber die Angst war zu groß, so lange von ihr getrennt zu sein.“

Das bisschen Individualität, das Jessyca sich zu Beginn ihres Studiums aufgebaut hatte, sei dadurch wieder eingedampft worden. „Plötzlich war ich nicht mehr Jessy, sondern wurde gefragt: Bist du die, die Rugby spielt?“ War sie nicht – sie tanzte Tango, Jennyfer spielte Rugby.

So etwas hörten die beiden immer wieder. Auch beliebt: Wo ist denn deine bessere Hälfte? „Das zeigt dir: Die andere ist besser, und du bist nur halb“, sagt Jessyca. „Das macht etwas mit dem Selbstwert.“

Schließlich landeten beide Zwillinge in Stuttgart. Jessyca war immer unzufriedener mit ihrem Job, mit dem Zwillingsdasein, mit der fehlenden Sonne im Kessel. „Ich hab mich nicht getraut, das anzusprechen“, sagt sie. Irgendwann ging sie in ein Kloster. Zum ersten Mal ging es nur um sie, um ihre Träume und Ängste. „Ich habe mich getraut, in der Ich-Form zu denken“, sagt sie.

Als Jessyca ins Ausland ging, zog es Jennyfer den Boden unter den Füßen weg

Jessyca ging ins sonnige Ausland, auf die Kanaren – und Jennyfer zog es den Boden unter den Füßen weg. Alle Trennungen zuvor waren Trennungen auf Zeit. Dieses Mal war kein Ende in Sicht. „Das war uncool“, sagt sie. Plötzlich habe ihre Schwester die Dinge nicht mehr mit ihr besprochen. „Sie hat Entscheidungen für sich getroffen und mich nur noch informiert.“

Das war mit 35. Es krachte. Einen Monat sprachen sie nicht miteinander. Ein Kontaktabbruch, der für sie notwendig war, um in die Reflexion zu gehen. „Es fühlte sich ein Stück weit an wie Verrat“, sagt Jessyca über ihren Schritt weg von ihrer Zwillingsschwester.

Letztlich lernten beide, wer sie ohne die Schwester sind. „Es hat schon Sinn ergeben – so, wie es war, hat es sich nicht mehr leicht angefühlt im Zwillingsdasein“, sagt Jennyfer. Die emotionale Abhängigkeit sei zu groß gewesen. Zum Beispiel, als sie sich verliebte und sie ihr Glück unbewusst ausbremste, weil Jessyca das gleiche Glück nicht hatte.

Inzwischen ist das anders. Sie sprechen anders miteinander, fühlen mit statt mitzuleiden, und stehen mit beiden Beinen im Leben.. „Wir dachten uns: Wir können doch nicht die einzigen sein, die sich damit beschäftigen“, sagt Jennyfer. Damals hätte es ihnen geholfen, wenn es ein Buch gegeben hätte. Also begann Jennyfer, selbst eins zu schreiben. „Nicht ohne meinen Zwilling“ heißt es, mit Tipps, die anderen Zwillingen vielleicht helfen können.

„Nicht ohne meinen Zwilling“ – Buch über Identität soll anderen helfen

Heute wissen die beiden zum Beispiel, was ihnen in ihrem Leben geholfen hätte: sich früher voneinander abzunabeln. Am besten bereits in der Kindheit. „Schon im Kindergarten ist eine wichtige Frage, ob die Zwillinge in die gleiche oder in getrennte Gruppen gehen“, sagt Jennyfer. Auch wenn die Kinder dann doppelt loslassen müssten: von den Eltern und vom Zwilling. Aber in der Schule war es zumindest bei ihnen schon zu spät. Und wenn die Kinder in die gleiche Gruppe gehen, sollten sie auch mal Zeit mit sich alleine oder nur mit anderen Kindern verbringen.

Auch ein paar Empfehlungen für Zwillingseltern würden sie aus ihrer eigenen Erfahrung ableiten. „Macht ganz unterschiedliche Namen“, sagt Jennyfer. „Die sollen nicht gleich klingen, nur weil es süß ist.“ Auch sie hätten mit ihrer Mutter darüber gesprochen. Außerdem finden sie, Eltern sollten jeweils Zeit mit den einzelnen Zwillingen verbringen: mal die Mama auf dem Spielplatz mit der einen und der Papa beim Malen zuhause mit der anderen. Auch, um die Stärken der Kinder kennenzulernen.

Bekannten außerhalb der Familie raten sie: „Schaut euch die Zwillinge an“, sagt Jennyfer. „Nehmt Euch Zeit, Unterschiede in der Mimik, der Gestik, dem Charakter zu erkennen – und sprecht die Menschen mit Namen an.“

Zwillinge aus Stuttgart: „Wir erleben heute die Blüte unseres Zwillingsdaseins“

Und letztlich empfehlen sie Zwillingen, sich zu trauen, alleine Zeit zu verbringen und Spaß zu haben. So wie sie das mittlerweile tun. Die Hälfte der Zeit leben beide in Stuttgart und verbringen viel Zeit miteinander, im Winter lebt Jessyca auf den Kanaren.

Beide sind im Coaching tätig und arbeiten teilweise zusammen, haben aber auch individuelle Schwerpunkte. „So wird es noch cooler, weil wir uns mehr zu erzählen haben und noch mehr neue Perspektiven einbringen können“, sagt Jessyca. „Wir erleben heute die Blüte unseres Zwillingsdaseins.“

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