Tausende Schaulustige verfolgen, wie bei Süßen eine Bahnbrücke für die neue Umgehungsstraße der B 466 eingeschoben wird. Die Arbeiter stehen unter großem Zeitdruck, denn nach Pfingsten sollten die Züge ja wieder fahren

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Süßen - Der große Moment kommt ganz unspektakulär am Pfingstsonntag um kurz vor 15 Uhr. Langsam und fast geräuschlos schieben die Hydraulikpressen die Bahnbrücke in die richtige Position. 22 Meter hat der schon vor Wochen erbaute 3700 Tonnen schwere Koloss aus Stahlbeton auf zwei Teflon beschichteten Schienen in den vergangenen Stunden zurückgelegt. Jetzt geht es an die Feinjustierung. Ein Vermessungstechniker steht auf der anderen Seite der neuneinhalb Meter tiefen Baugrube und blickt durch sein Tachymeter. „Rechts null Millimeter, links elf Millimeter“, spricht er in sein Funkgerät. Da muss korrigiert werden. Noch 48 Stunden.

 

Jetzt gibt es kein Zurück mehr

Mathias Jester vom Stuttgarter Regierungspräsidium sind solche Kleinigkeiten fast egal. Der Projektleiter für den Bau der Bundesstraße 466 zwischen Süßen-Ost und Donzdorf war schon am Freitagabend in Feierlaune. „Hauptsache, sie fangen an. Danach gibt es kein Zurück mehr“, sagt Jester. Sobald der Bahnverkehr unterbrochen, der Strom der Oberleitung abgestellt und das Gleis herausgeschoben ist, muss alles auch fertig werden. Es ist das vierte und mit Gesamtkosten von mehr als drei Millionen Euro auch teuerste von sechs Brückenbauwerken auf der 2,2 Kilometer langen Umgehungsstraße. 2017 soll die komplette Straße fertig sein und Süßen endlich die ersehnte Entlastung bringen.

Gerd Abert von der Bahn hat da natürlich eine ganz andere Sicht auf die Dinge. Mehr als ein Jahr hat er die Maßnahme geplant. „Eigentlich wollte ich hundert Stunden haben“, sagt Abert. Bekommen hat er knapp 80, von Freitagabend, 21.30 Uhr bis Dienstagmorgen, 5 Uhr. Eine längere Pause ist auf der viel befahrenen Filstalstrecke nicht denkbar. Doch dann hatte ein ICE Verspätung. Ein Güterzug musste warten, und alles verschob sich. „Die zehn Minuten fehlen uns jetzt.“

Der Aushub könnte eine ganze Sporthalle füllen

Alle Schritte hat Abert minutiös durchgeplant. Auf 65 Metern Bahnstrecke die Schienen herausziehen, dann den Schotter abtragen und den Bahndamm entfernen. Was drei große Raupenbagger, ein Meißelbagger und zwei Radlader bei ihrem Baggerballett innerhalb weniger Stunden bewegen, füllt eine ganze Sporthalle. Auf den Abtransport wird am Wochenende mit Rücksicht auf die Anwohner aber verzichtet. Schließlich ist Pfingsten. In den kommenden Wochen werde der Aushub aber hinüber zur künftigen Trasse der B 10 in Richtung Gingen gebracht, sagt Jester. Noch hat der Bund das Geld für deren Weiterbau nicht bewilligt. „Wir werden uns in die betreffenden Grundstücke aber schon einweisen lassen“, sagt Jester.

Die Süßener hätten den Lastwagenlärm an Pfingsten wohl ertragen. Für sie ist der Brückenbau ein höchst erfreuliches Ereignis. Zwar wurde bereits vor vier Jahren die neue B 10 freigegeben. Der Verkehr in Richtung Heidenheim quält sich aber immer noch durch das 10 000-Einwohner-Städtchen. Sogar ein richtiges Brückenfest wollte Bürgermeister Marc Kersting (CDU) feiern. Das ging den Verantwortlichen von der Bahn und der ausführenden Firma Max Bögl aus Neumarkt in Franken dann aber doch ein bisschen zu weit.

Volksfeststimmung an der Baugrube

Viele Schaulustige drängen sich dann aber doch am Bauloch. Mehrere Tausend dürften es über das ganze Wochenende gewesen sein. Aus einem Lieferwagen heraus werden Crêpes verkauft, der Gasthof Löwen bietet kalte Getränke und belegte Brötchen. Männer in Sonntagskluft oder Radlermontur führen Fachgespräche.

Auch Claus Dehmer ist aus Geislingen herübergeradelt und blickt jetzt von einer benachbarten Feldwegbrücke gespannt auf das Treiben. „Ich habe mir das ganz anders vorgestellt“, gesteht der Rentner. Mit seinem Sohn, dem Geislinger Oberbürgermeisters Frank Dehmer habe er sich vorher noch darüber unterhalten. „Wir dachten, zwei Riesenkräne würden die Brücke hineinheben.“

Der ICE rollt an

Am frühen Montagabend tritt der Kampf gegen die Uhr dann in die entscheidende Phase. Jetzt muss das Gleisbett wieder aufgefüllt werden. Schotter rein, dann verdichten, dann wieder Schotter rein. Hier entscheidet sich, ob alle sauber gearbeitet haben. „Sonst gibt es einen Schlag, wenn die Züge auf die Brücke fahren“, sagt Abert. Auch die vierte Nacht wird durchgearbeitet. Dann nähert sich der entscheidende Augenblick. Die Oberleitung kommt wieder unter Strom. Um kurz nach 5 Uhr donnert der ICE 616 von München nach Dortmund über die Brücke – und im Idealfall, als ob nichts gewesen wäre.