Eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise ist nicht in Sicht. Das Thema wird vertagt. Die Kanzlerin hofft auf den Sondergipfel im März. Doch bei ihren Kritikern – allen voran Horst Seehofer – wächst die Ungeduld.

Brüssel - Angela Merkel wirkt müde, als sie um 2.30 Uhr am Freitagmorgen in Brüssel vor die Presse tritt. Auch wenn sie sich optimistisch gibt – sie kann nicht überspielen, dass dieser Gipfel ganz anders abgelaufen ist als lange erhofft. Statt handfester Resultate bei der Kooperation mit der Türkei präsentieren zu können, wird die Diskussion verschoben, auf einen Sondergipfel am 6. März.

 

Merkel wird nicht müde zu betonen, dass alle ihre Kollegen die Zusammenarbeit mit der Türkei – eine erklärte Herzensangelegenheit der Deutschen – bekräftigt hätten. Das findet auch Niederschlag in der Abschlusserklärung des Gipfels. „Wir sind uns einig, dass das eine Priorität ist“, sagt Merkel. Doch die Flüchtlingskontingente, die Europa der Türkei im Gegenzug für die Absicherung der Grenze abnehmen soll, werden nicht einmal angesprochen. Italien sorgt sich zudem, effektive Kontrollen in der Ägäis könnten den Flüchtlingsstrom wieder in Richtung Nordafrika lenken.

Österreich hat die Kanzlerin überrascht

Jean-Claude Junker, der Präsident der EU-Kommission, versichert, man arbeite weiter an einer europäischen Lösung statt „nationale Einzelstrategien zu verfolgen“. Dennoch herrschte offenbar eine gereizte Stimmung. „Merkel ist noch immer ziemlich isoliert“, sagt ein EU-Diplomat am Freitagmorgen. Die am Freitag erstmals umgesetzte Ankündigung Österreichs, nur noch 80 Asylbewerber pro Tag passieren zu lassen, hat die Kanzlerin kalt erwischt. „Viele von uns waren überrascht“, sagt sie. Der zuletzt wegen des schlechten Flüchtlingsmanagements stark unter Druck geratene griechische Premier Alexis Tsipras soll lautstark protestiert haben.

Das bedeutet viel Gesprächsstoff für den neuen Gipfel, auf den sich nun alle Erwartungen richten. Spätestens dann, so heißt es aus dem Umfeld von EU-Ratschef Donald Tusk, müssen die Flüchtlingszahlen merklich sinken. Daran ist auch der Bundesregierung gelegen. Das Datum für den Sondergipfel ist offenbar nicht zufällig gewählt. Ein irischer Diplomat erzählt, die Kanzlerin habe in der Sitzung betont, dass ein Termin in vier Wochen „zu spät ist“. Am 13. März finden für sie heikle Landtagswahlen statt.

Der Gipfel der Nichtentscheidungen bleibt bei Merkel zuhause nicht ohne grummelndes Echo: Während die Kanzlerin noch in Brüssel verhandelt, listet CSU-Chef Horst Seehofer in München auf, was sie mit ihrer Diplomatie alles nicht erreicht habe. „Leider hat der aktuelle EU-Gipfel keine nachhaltige Lösung gebracht“, beklagt er. Seehofer bemängelt zudem, dass Merkel seinen am 25. Januar verschickten Brandbrief noch nicht beantwortet habe. Am Dienstag wolle er mit seinem Kabinett beraten, ob und wann Bayern die angedrohte Klage wegen der Flüchtlingskrise beim Verfassungsgericht einreichen wird. „Schon aus Anstandsgründen“ wolle er Merkel aber Gelegenheit geben, erst Stellung zu nehmen.

Die jungen Rebellen der Union schweigen – noch

Seehofer pocht auf ein neuerliches Treffen der drei Parteichefs der großen Koalition, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Von der Kanzlerin erwartet er unverdrossen einen Kurswechsel. Wer die „Illusion“ einer unbegrenzten Aufnahmefähigkeit nähre, sagt er, „wird sich schwer tun, dieses Luftschloss wieder einzureißen“.

In der Partei der Kanzlerin formieren sich drei Lager: Merkel-Freunde deuten das Timing des neuen Gipfels als raffinierten Schachzug. Der Nato-Einsatz in der Ägäis zur Kontrolle des Schleuserverkehrs werde bis dahin nicht folgenlos bleiben. So könne es gelingen, den Flüchtlingsstrom zu drosseln – zumindest kurzfristig. Der Sondergipfel vermittle zudem den Eindruck von Entschlossenheit und Handlungswille kurz vor den wichtigen Wahlen. Das beurteilen nicht alle so optimistisch. In den wahlkämpfenden Landesverbänden gibt es aber aus taktischen Gründen wenig Neigung, den Streit mit Merkel weiter zu befeuern. Das Publikum der Union mag keinen Krach. „Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als Merkel zähneknirschend einfach so weiter machen zu lassen“, sagt ein Kritiker der Kanzlerin aus Baden-Württemberg. „Alles andere wäre Harakiri“ – so nennen die Japaner einen rituellen Selbstmord.

Merkel kann nicht damit rechnen, dass die Union sich in Geduld übt. Für Sonntagabend ist ein Treffen junger Rebellen aus der Unionsfraktion anberaumt. Die Gruppe nennt sich „CDU 2017“. Sie hat der Kanzlerin schon wiederholt in die Suppe gespuckt: kurz nach der Wahl, als es um den allzu sozialdemokratischen Koalitionsvertrag ging, erneut im Frühjahr 2014, als es schien, Merkel wolle sich auf ihren Lorbeeren ausruhen, und die Nachwuchsriege eine Agenda 2020 vorlegte. Das Treffen am Sonntag wurde zwar schon vor Wochen anberaumt, Beteiligte erwarten aber, dass die Gruppe um Finanzstaatssekretär Jens Spahn ihre eigene Bilanz der merkelschen Flüchtlingspolitik ziehen wird – mit weniger selbstzufriedenen Schlussfolgerungen.

Die Merkel-Opposition in der Unionsfraktion möchte sich nicht in Schweigen hüllen. Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach äußert sich unzufrieden über die Vertagung flüchtlingspolitischer Entscheidungen auf dem EU-Gipfel. „Die Bundesregierung setzt alles auf die türkische Karte, meines Erachtens sind aber Zweifel angebracht, ob die Türkei auf Dauer willens und in der Lage ist, die EU-Außengrenzen so abzusichern, wie es notwendig wäre“, sagt er der Stuttgarter Zeitung. Die Türkei spiele bei der Frage, wie der Flüchtlingszustrom zu drosseln wäre, zwar eine Schlüsselrolle. Wichtiger sei aber „die Rückkehr zur Anwendung geltenden Rechts“.

Wenn die Bundesregierung darauf beharre, keine Obergrenzen festzulegen, dann müsse sie die „Pflicht zur Zurückweisung“ jener Asylbewerber akzeptieren, die keine Aussicht auf ein Bleiberecht hätten. Bosbach schlägt vor, nur noch Flüchtlinge aufzunehmen, die nachweislich aus einer Bürgerkriegsregion geflohen sind und sowohl ihre Nationalität als auch ihre persönliche Identität dokumentieren können.

So denken auch andere Innenpolitiker aus der Union. Merkels Taktieren in Brüssel sei „nicht sonderlich ermutigend“, beklagt einer und verweist auf das Modell Österreich. Ein „striktes Grenzmanagement“ sei unerlässlich. Es würde auch Merkels Glaubwürdigkeit nicht schaden. Sie werde „in dieser Angelegenheit falsch beraten“.